Nach Amokläufen stehen Mütter und Väter in der Kritik. Psychologe erklärt warum und sagt: “Eltern tragen nicht für alles die Verantwortung.“

Hamburg/Berlin. Die Familie des Amokschützen von Winnenden lebt inzwischen mit einer neuen Identität an einem unbekannten Ort, die Eltern des 24-jährigen Schützen des Kino-Massakers in Colorado fürchten nach eigener Aussage um ihre Sicherheit und in „We need to talk about Kevin“ muss Mutter Eva (Tilda Swinton) Gewalt gegen sich, ihr Haus und ihr Auto hinnehmen. Warum sieht die Öffentlichkeit die Eltern von Amokläufern als Täter, fast nie als Opfer? Darüber sprach mit Stefan Drewes, dem Vorsitzenden der Sektion Schulpsychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen in Berlin.

Eltern von Amokläufern werden oft als mitschuldig betrachtet, öffentlich geächtet und bestraft. Warum?

Stefan Drewes: Die Menschen suchen bei solch emotional stark verstörenden Ereignissen nach einfachen, direkten Erklärungen und nach einem Schuldigen. Das ist zunächst psychologisch verständlich. Man will das Unbegreifliche kognitiv und emotional verarbeiten und verstehen. Auch aus der Angst heraus, ob das eigene Kind auch zum Amokläufer werden könnte. Und da bei uns noch immer die Erziehung als das A und O gilt, werden die Eltern oder Familien für die Tat verantwortlich gemacht. Das kann sich dann auch in aktives Handeln gegen Eltern äußern, also indem beispielsweise Eigentum zerstört oder die Familie sozial geächtet wird. Einfache Erklärungsmuster erleichtern zunächst das Verstehen.

Aber die Eltern sind doch oftmals selbst Opfer? Was löst eine solche Tat in den Familien aus?

Drewes: Die Familie bricht zusammen, nicht nur weil das Kind plötzlich fehlt, sondern auch weil sich die Eltern die Schuld geben. Auch für die Geschwisterkinder sind in der akuten Phase die Eltern emotional nicht mehr erreichbar, so dass auch für diese das Familienleben zusammenbricht. Die Familie steht unter Schock und zieht sich vollkommen zurück. Zum einen als Schutz vor der Presse und der Öffentlichkeit, zum anderen auch, um mit den eigenen Schuldgefühlen klarzukommen. Das führt oftmals zur Isolation. Spontane Schuldeingeständnisse der Eltern können später oft auch zu erheblichen rechtlichen Konsequenzen führen, wenn Schadensersatzanforderungen gestellt werden, wie wir es zum Beispiel nach dem Massaker in Winnenden erlebt haben. Dort wurde der Vater des Täters wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, weil er die Waffen unverschlossen aufbewahrt hat.

Mal sind es die Eltern, mal brutale Ballerspiele, die für solche Taten verantwortlich gemacht werden. Gibt es denn Anzeichen, die Eltern alarmieren sollten?

Drewes: Grundsätzlich sollten Eltern zunächst ihren Kindern vertrauen und an sie glauben. Ein Misstrauen taucht in der Regel relativ spät auf und das ist bei einer guten Eltern-Kind-Beziehung auch gut so. Dennoch müssen Eltern aufmerksam die Entwicklung ihrer Kinder verfolgen. Jugendliche haben öfters Gewaltfantasien und flüchten sich in Fantasiewelten, um sich selbst stark zu fühlen. Gleichzeitig kann übermäßiger Konsum von Computerspielen die Hemmschwelle senken, Gewaltfantasien in die Realität umzusetzen.

Aber Sie werden doch nicht gleich zu Amokläufern?

Drewes: Allerdings wissen wir viel zu wenig darüber, welche Jugendlichen tatsächlich gefährdet sind. Da gilt es für Eltern, sehr genau hinzuschauen und sich frühzeitig auch mit Lehrern oder auch Schulpsychologen zu beraten, ob der Jugendliche sich in einer besonders schwierigen Entwicklung befindet und welche Hilfen er braucht. Grundsätzlich aber müssen wir uns von dem Denken verabschieden, dass Eltern ihren Kindern alles anerziehen können und für alles verantwortlich sind. Jugendliche sind bereits eigene Persönlichkeiten und Individuen, Eltern nicht für all ihr Handeln und Sein verantwortlich.

Das Interview führte Britta Schmeis von der Nachrichtenagentur dpa