Mediziner vom Unfallkrankenhaus erarbeiten Empfehlungen, wie Verletzten auf Offshore-Anlagen geholfen werden kann.

Hamburg. An einer im Bau befindlichen Windenergieanlage (WEA) löst sich bei Montagearbeiten ein Teil der Anlandeplattform für Schiffe. Ein 31 Jahre alter Industriekletterer stürzt ins Meer und stirbt an Unterkühlung. Dieser Vorfall ereignete sich im Januar beim Bau des Windparks "BARD 1" gut 100 Kilometer nordwestlich von Borkum. Er zeigt eine neue Herausforderung für die Arbeitssicherheit: Unternehmen, die weit draußen im Meer Energieanlagen betreiben, müssen imstande sein, verletzte oder akut erkrankte Mitarbeiter medizinisch zu versorgen. Arbeits- und Unfallmediziner, Rettungsfachleute und Techniker trafen sich jetzt im Unfallkrankenhaus Boberg und starteten das Forschungsprojekt Rettungskette Offshore Wind.

"Die Zeit ist der entscheidende Faktor bei der Versorgung von Verletzten. Deshalb brauchen wir am Unfallort ausgebildete Notfallhelfer und müssen wissen, wie wir Unfallopfer transportieren können. Die Versorgung in der Klinik ist das letzte Glied der Rettungskette", sagte Dr. Nils Weinrich, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus (BUK) Boberg und stellvertretender Leiter des Projekts. Die Klinik stellt das vierköpfige "Kernteam" des Projekts, das bis zum Ende des Jahres 2014 einen Empfehlungskatalog zur Notfallversorgung in Offshore-Windparks vorlegen will. Die Kosten von 700 000 Euro trägt die Berufsgenossenschaft Handel und Warendistribution (BGHW).

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"Wir diskutieren jetzt die Erstversorgung beim Aufstellen der Anlagen. Die eigentliche Herausforderung kommt, wenn die Windparks gebaut sind und dann gewartet und gepflegt werden müssen", sagte Dr. Karl-Peter Faesecke, der den Bau des ersten deutschen Windparks "Alpha Ventus" arbeitsmedizinisch leitete. Der mit zwölf Rotoren relativ kleine Windpark 40 Kilometer vor Borkum ist die erste deutsche Hochseewindfarm außerhalb der Zwölfmeilenzone, die komplett am Netz ist. Sie hat eine Gesamtleistung von 60 Megawatt (MW). Die Bundesregierung strebt bis zum Jahr 2030 eine installierte Offshore-Leistung von 25 000 MW an.

Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) geht davon aus, dass sich in zehn Jahren rund 1000 Offshore-Arbeiter ständig in den Windparks aufhalten werden. Sie machen dann Schichtdienst, übernachten auf Plattformen mit Wohncontainern und werden bei jedem Einsatz mehrere Wochen auf dem Meer sein.

Die DGzRS-Leitstelle in Bremen soll zukünftig auch die Rettungseinsätze der Windparkarbeiter koordinieren, allerdings ohne die eigene Schiffsflotte zu vergrößern. Zum einen bleibt die Hauptaufgabe der DGzRS die Rettung Schiffbrüchiger, zum anderen werden viele Parks so weit entfernt liegen, dass nur Hubschrauber schnelle Hilfe leisten können. Ihr Einsatz erfordert jedoch passable Wetterbedingungen. Faesecke: "Wir hatten einen Unfall, bei dem der Verletzte erst nach drei Tagen abtransportiert werden konnte."

Die Notfallszenarios in Windparks unterscheiden sich von in Seenot geratenen Menschen. So können sich Verletzte oder akut erkrankte Personen in der Rotorgondel, in luftiger Höhe 80 bis 85 Meter über dem Meeresspiegel befinden. Nicht jede Gondel hat eine eigene kleine Plattform, von der ein Verletzter per Hubschrauber geborgen werden kann. Zudem sei das Gurtsystem verbesserungsbedürftig, sagte Michael Ziethen von der BGHW: "Die Gurte verursachen schon bei gesunden Arbeitern Druckstellen. Um die Haltesysteme zu optimieren, können wir die BUK-Werkstatt nutzen und anhand von Computersimulationen die Situation der Person im Haltegurt nachvollziehen."

Auch mit Tauchunfällen ist zu rechnen. "500 Taucher werden ständig im Einsatz sein, um die Unterwasserkonstruktionen der WEA auf Korrosion zu überprüfen", sagt Arbeitsmediziner Faesecke. Die Anlagen sind extremen Bedingungen ausgesetzt: Stürmen, Wellenschlag, Salzwasser. Verunglückte Taucher seien nicht ohne Weiteres per Hubschrauber zu bergen, betont Faesecke: "Zu schnelles Hochziehen verursacht Kreislaufprobleme."

"Wir werden in unserem Projekt die einzelnen Glieder der bestehenden Rettungskette genau analysieren und weiterentwickeln. Dazu gehört die Ausrüstung vor Ort, also etwa welche Schienen zum Ruhigstellen von Gliedmaßen und welche Medikamente vorhanden sein sollten", sagte Prof. Klaus Seide, Unfallchirurg am BUK Boberg. Die Experten denken auch an den Einsatz von Telemedizin. Schon heute überwachen etwa im "BARD"-Windpark WLAN-Kameras den technischen Betrieb der einzelnen Rotoren, übermitteln ihre Bilder via Internet an die Betreiberfirmen. Solche Kommunikationssysteme könnten auch genutzt werden, um den Zustand eines Patienten zu dokumentieren, damit sich die beteiligten Mediziner an Land ein Bild über die Situation machen können.

Die Finanzierung der anspruchsvollen Rettungskette obliegt den Windparkbetreibern - auch auf hoher See gelten die deutschen Arbeitsschutzbestimmungen. Die Praxis sei immer eine Gratwanderung zwischen maximaler Sicherheit und den entstehenden Kosten dafür, so Faesecke. "Es werden Milliarden in den Meeresboden gerammt, aber wenn es darum geht, die Arbeiter zu einem zweiwöchigen Ersthelferlehrgang zu schicken, dann sind die Unternehmen knauserig", sagte er. "Es ist sehr gut, dass in diesem Projekt das BUK mit seiner geballten Kompetenz Empfehlungen gibt. Sie werden sicherlich ernster genommen als Ratschläge eines niedergelassenen Arbeitsmediziners." Faesecke plädierte stark dafür, potenzielle Offshore-Arbeiter vor ihrem Einsatz auf Herz und Niere zu prüfen: "Wir brauchen einen strengen Tauglichkeitstest. Jemand, der zum Beispiel keine gute Kondition hat, kann nicht die Rotortürme hinaufklettern."