Die Historikerin will den Namen des Gekreuzigten sowie des damals regierenden Kaisers Tiberius entziffert haben. Aber selbst Experten im Vatikan sind skeptisch.

Ist das Grabtuch von Turin das Dokument der Kreuzigung Jesu? Eine italienische Historikerin will auf dem legendären Leinen mit dem Abbild eines Gekreuzigten Schriftzüge erkannt haben, die auf die Person Jesu und auf eine Hinrichtung unter Kaiser Tiberius hinweisen. Ihre Beobachtungen sollen in Kürze als Buch erscheinen. Doch selbst jene, die das Tuch für echt halten, melden starke Zweifel an. Wenige Monate, bevor Papst Benedikt XVI. die Reliquie in Turin besucht, braut sich eine Kontroverse zusammen.

Schon vor geraumer Zeit hatte die Forscherin Barbara Frale auf die vermeintliche Entdeckung hebräischer Schriftzeichen auf dem Tuch hingewiesen. Die 39-jährige Historikerin aus Viterbo, hauptberuflich wissenschaftliche Mitarbeiterin im Vatikanischen Geheimarchiv, stützt sich auf ein Dossier, das ihr der Franzose Thierry Castex überlassen hatte. Was sie aus den Wortfragmenten zusammengepuzzelt haben will, übertrifft alle bisherigen Spekulationen: "Ich glaube, es ist mir gelungen, die Bestattungsurkunde von Jesus von Nazareth zu lesen", sagte sie der italienischen Tageszeitung "La Repubblica".

Der Beweis, wenn es ihn gibt, liegt für das bloße Auge verborgen in den Fasern des Gewebes: Ungelenke, wohl in Eile geschriebene Lettern des hebräischen, griechischen und lateinischen Alphabets, die sich teils zu den Seiten des Gesichts des Mannes auf dem Grabtuch, teils unter seinem Kinn befinden.

Der Theorie Frales zufolge handelt es sich um die Spuren eines verlorenen Dokuments, das beim Begräbnis mit in das Leinen eingeschlagen wurde und dessen Tinte eine schwache chemische Reaktion auslöste, wie bei aufeinanderliegenden Seiten eines alten Kodex.

Was die Forscherin erstaunte, waren die Zeichenfolgen "esou" und "nazarenos" - sollte dies "Jesus der Nazarener" heißen? Dazu ein hebräischer oder aramäischer Wortfetzen, der an einen Urteilsspruch denken lässt, und die Buchstaben "iber": Laut Frale womöglich ein Verweis auf Kaiser Tiberius (14-37 n. Chr.), um dessen 16. Regierungsjahr herum die Kreuzigung Jesu stattfand. Frale bezweifelt, dass die Schrift eine fromme Zutat später Christen sei. Diese hätten, so glaubt sie, sicher von "Christus", niemals aber von dem "Nazarener" geschrieben. Wenn die Beobachtungen und ihre Interpretation zuträfen, müsste es das Originaldokument der Bestattung Jesu sein.

"Meiner Meinung nach hat sich Frale auf ein sehr heimtückisches Gelände begeben", urteilt Luciano Canfora, Professor für klassische Philologie in Bari. Nichts gegen kulturelle Vielfalt im antiken Jerusalem - aber ein solcher Sprachen-Mix auf einem Dokument wäre so, "als ob ein indischer Taxifahrer in London für die Quittung drei verschiedene Idiome benutzte", so Canfora in der Tageszeitung "Avvenire". Gerade die Detailfülle der Entdeckung sei eher ein Grund für Misstrauen. Auch die Existenz eines Bestatters, der seine Toten mit Urkunden versehe, sei ihm für Judäa im ersten Jahrhundert unbekannt.

Ausgerechnet der päpstliche Hüter des Grabtuchs reagiert stark zurückhaltend. "Sehr erstaunt" sei er über die Beobachtungen Frales, erklärte Giuseppe Ghiberti, renommierter Neutestamentler und Geistlicher in Turin. Von Amts wegen ist ihm eigentlich jedes Argument recht, das die Authentizität der Tuchreliquie erhärtet. Aber ihm selbst, der sich seit Jahren mit dem Leinen befasst, sei noch nie eine Ahnung von verborgenen Schriften gekommen, sagte er dem "Avvenire". "Und ebenso wenig den Professoren, die Fachleute für Bildauswertung sind." Vor einem deutlicheren Urteil möchte Ghiberti allerdings das Buch Frales erst einmal gründlich lesen. Das werden wohl auch viele andere wollen.