Der Londoner Ortsteil Greenwich ist der Bezugspunkt eines Systems, das Flugzeug- und Autonavigation sowie eine internationale staatliche Zusammenarbeit erst ermöglicht.

Jedes Kind muss sich im Mathematik-Unterricht den Unterschied zwischen der X-Achse und Y-Achse einprägen. Erst das einheitliche Koordinatensystem erlaubt eine korrekte Zuordnung verschiedenster Daten. Überträgt man dies auf die Erdkugel, wird deutlich, warum am 13. Oktober des Jahres 1884 die Herrschaften der Internationalen Meridian-Konferenz in Washington einen weitreichenden Beschluss fassten: Mit überwältigender Mehrheit (22 gegen eine Stimme bei zwei Enthaltungen) legten sie fest, dass der Nullmeridian der Erde, also ein senkrecht zum Äquator stehender, Nord-Süd verlaufender Halbkreis, allgemein verbindlich durch Greenwich bei London verlaufen soll.

Damit hatte endlich auch die Welt ihre Y-Achse - über die X-Achse, den Äquator, verfügte sie ja längst. Und seither ist für alle Staaten geregelt: Ein Grad östlicher Länge gibt jenen Längenkreis an, der vom Nullmeridian genau so weit entfernt war, wie es einem 360stel des Umfangs der lokalen Breitenkreises entsprach. Man muss dies so ausdrücken, weil vom größten Breitenkreis, dem Äquator, der Umfang der Breitenkreise zu den Polen hin abnehmen.

Der Nullmeridian wurde zum unentbehrlichen Maßstab. Erst er ermöglicht die internationale Zusammenarbeit von Staaten, sagt Manfred Weisensee, Professor für Kartografie und Geoinformatik an der Fachhochschule Oldenburg/Ostfriesland/Wilhelmshaven. "Insbesondere für die Nutzung von modernen GPS-Anwendungen brauchen wir ein einheitliches geografisches Bezugssystem." Ohne allgemeingültige Längengrad-Koordinaten könnten keine Schiffe, Flugzeuge und Raketen ans Ziel kommen. Die Auto-Navigatoren wären hilflos, und selbst die Hightech-Landwirtschaft setzt die punktgenaue Ortung ein, um präzise düngen oder die Ernte einfahren zu können.

Auf der Meridian-Konferenz in Washington hatte sich Greenwich erst einmal gegen Konkurrenten durchsetzen müssen. Da war zunächst der Pariser Meridian, der mitten durchs dortige Himmels-Observatorium führte. Er war 1718 vom französischen Astronomen und Vermessungsfachmann Jacques Cassini festgelegt worden. Seinerzeit schon viel länger gebräuchlich war der Ferro-Meridian, der erstmals im Jahr 150 vom griechischen Astronomen Ptolemäus verwendet worden war. Damals galt die Kanareninsel El Hierro, auch Ferro genannt, als westlichster Punkt der damals bekannten Welt. Das war für die Lage eines Nullmeridians praktisch, "weil alle bekannten Orte östlich davon lagen und somit keine negativen Längenangaben auftreten konnten", erklärt Weisensee.

Zwar wurde später weiter westlich liegendes Festland gefunden, etwa die Azoren und das von den Wikingern und noch einmal von Kolumbus entdeckte Amerika. Doch ein Gelehrtenkongress aller seefahrenden Nationen bestätigte im April 1634 den Ferro-Nullmeridian. Letztlich sei jeder früher übliche Bezugsmeridian eine willkürliche Festlegung und die Folge eines politischen Machtspiels gewesen, urteilt Professor Manfred Buchroithner, Direktor am Institut für Kartografie der Technischen Universität Dresden.

Die Beweggründe für den Einsatz der Briten auf der Meridian-Konferenz sind rasch erklärt. "Den Nullmeridian im eigenen Land zu haben ist natürlich prestigeträchtig", sagt Manfred Weisensee. "Für die Engländer war es auch deshalb vorteilhaft, weil sie auf diese Weise ihre eigenen Karten und Aufzeichnungen mit Längenangaben nicht ändern mussten, was für andere Staaten sehr aufwendig und teuer war." Denn sind Maßeinheiten erst einmal festgelegt, entwickeln sie eine gewisse Trägheit, die eine neuerliche Reform erschwert - ganz wesentlich aus finanziellen Gründen. Buchroithner: "Deshalb sträubt sich die US-amerikanische Wirtschaft bis heute dagegen, alle Maßeinheiten auf das metrische System umzustellen."

Seit 1997 ist der Londoner Stadtteil Greenwich (altsächsisch für "Dorf im Grünen") Teil des Unesco-Weltkulturerbes, inklusive des Königlichen Observatoriums, das auf das Jahr 1675 zurückgeht. Der Nullmeridian durchschneidet das traditionsreiche Royal Observatory. Dies wird architektonisch angedeutet und nachts durch einen Laserstrahl unterstrichen.

Die Problematik der Minuswerte für alle Orte westlich des Nullmeridians wurde ebenfalls elegant gelöst. Man behilft sich mit dem Zusatz westlicher oder östlicher Länge, jeweils reichend bis zu dem gegenüber von Greenwich liegenden Meridian nahe der arktischen Wrangel-Insel bei 180 Grad. Die geografische Lage des Hamburger Rathauses beträgt somit 53 Grad 33,1 Minuten Nord und neun Grad 59,6 Minuten Ost - eine weltweit einzigartige Position.