Seit Millionen Jahren schlüpfen Meeresschildkröten aus dem Ei, schwimmen Tausende von Kilometern und kehren 25 Jahre später zurück.

Sie bewegt sich noch so zappelig wie ein Baby. Sie ist so winzig wie der Handteller eines dreijährigen Kindes, ihr Panzer noch ganz weich. In ihren blanken Augen spiegelt sich eine Welt, die ihr völlig unbekannt ist und panische Angst einjagt.

Das Leben einer Unechten Karettschildkröte beginnt mit Erfahrungen, die jeder Kinderpsychologe traumatisch nennen würde. Bis zu drei Tage dauert es, ehe sich das kleine Reptil aus dem Eigelege tief im Sand ans Tageslicht gebuddelt hat. Der Weg zum weißen Wellensaum des Meeres, den es undeutlich in der Ferne erkennt, ist rund 40 Meter lang - eine Strecke des Todes. Kojoten, räuberische große Krabben und gefräßige Vögel haben nur auf diesen Moment gewartet und lauern auf den krabbelnden Pulk kleiner Schildkröten. Doch gerade die Panik ist ihr Überlebenskonzept: Sie treibt die hilflosen Tierchen an, ihr Letztes zu geben, hektisch über Hindernisse zu klettern, bedrohlichen Schatten auszuweichen, nicht auszuruhen. Erst wenn die Wellen sie ins Meer ziehen, ist die kleine Schildkröte in Sicherheit. Vorerst. Denn ihr Überlebenskampf hat gerade begonnen.

Eine atemberaubendere Einführung in das Leben einer Meeresschildkröte, als sie der Dokumentarfilm "Tortuga" bietet, ist kaum denkbar. Selbst im Kinosessel glaubt man das Salzwasser zu riechen, den Sand zu spüren, man möchte aufspringen und die kleinen Schildkröten zum Wasser tragen. Aber wie bei jeder guten Dokumentation wird auch in "Tortuga" nicht geschummelt. Denn auch die Fressfeinde wollen leben. Zwei Millionen Schildkrötenbabys schlüpfen jährlich an den Stränden Floridas - und nur die Hälfte überlebt die ersten Stunden.

Tierwanderungen gehören zu den größten Mysterien der Natur. Jedes Jahr im Juli umwandern Millionen Wildtiere den Kilimandscharo von Tansania bis in die Grassavannen Kenias und folgen dem Angebot des frischeren Grases. Zugvögel fliegen von Nordeuropa nach Westafrika, um dort zu überwintern. Ganze Pinguinkolonien schwimmen nach dem Brutgeschäft ins offene antarktische Meer, und niemand weiß, wo sie die Zeit bis zum nächsten Frühling verbringen. Es gibt aber auch Wanderungen, die nicht von Jahreszeiten, sondern von Wachstumsstadien diktiert sind: Insektenlarven etwa durchwandern fressend einen Fluss, bis sie sich verpuppen. All diese Wanderungen stammen aus dem rätselhaften Arsenal, das "Miss Evolution" in ihrer geräumigen Handtasche bereithält, wie Frank Schätzing sagen würde. Zu den längsten Odysseen in der Natur gehört die der Unechten Karettschildkröten, die an den Stränden von Florida schlüpfen. Sie führt die Tiere über Jahre und Tausende von Kilometern durch den gesamten Nordatlantik bis Neufundland, dann zu den seichten Gewässern der Azorenküste, wo die Schildkröte ihre Jugendzeit verbringt. Später zieht sie ins karibische Meer und bleibt dort 15 bis 20 Jahre, ehe das ausgewachsene Tier an seinen Geburtsstrand zurückkehrt, um sich zu paaren und Eier abzulegen.

Der britische Dokumentarfilmer Nick Stringer und sein Kameramann Rory McGuinness hatten sich etwas fast Unmögliches vorgenommen: Sie wollten die Meereswelt "quasi durch die Augen einer Schildkröte" zeigen. Aber wie kann man ihr überhaupt auf der Spur bleiben? Zwar haben es Tierfilmer mit immer ausgefeilterer Kameratechnik geschafft, Elefanten oder Pinguinen an Land zu folgen und sogar Zugvögel zu begleiten. Aber Meerestiere? Selbst wenn man sie mit einem Peilsender orten kann, verliert sich ihre Spur immer wieder im weiten blauen Dunkel der Ozeane - unfilmbar.

"Uns war klar, dass wir unmöglich einer einzelnen Schildkröte auf ihrer mehr als 25-jährigen Reise folgen können", sagt Stringer. Die Einstiegsszene an der Küste Floridas war mithilfe einer neuen Generation winziger Kameras noch vergleichsweise einfach. Danach aber musste sich das Team auf wissenschaftlichen Rat verlassen. Die renommierte amerikanische Meeresbiologin und Schildkröten-Expertin Jeanette Wyneken konnte ihnen sagen, an welchen Orten sie Karettschildkröten in unterschiedlichen Lebensstadien finden würden: unter anderem in der Sargassosee, vor der Neufundlandbank (Kanada), in den Küstengewässern von Portugal.

Was zum Beispiel geschieht nach dem Start ins Meer? Es dauert einige Tage und Nächte, bis die Schildkrötenbabys den Rand des Golfstroms erreichen. Schlafen sie zwischendurch? Nein, sie paddeln rund 70 Kilometer weit um ihr Leben, bis sie die wärmere Meeresströmung fühlen. Was man nie gesehen hat: Große, treibende Flöße aus Sargassum-Algen werden praktisch zu Schildkröten-Kinderzimmern. Hier können sich die kleinen Wanderer zum ersten Mal ausruhen. Der Golfstrom transportiert sie mit einer Fließgeschwindigkeit von acht Kilometern in der Stunde nach Norden.

Auf offener See wäre es nicht möglich gewesen, die Winzlinge in dem Algendickicht mit der Kamera zu finden. Für einige Szenen wurde deshalb ein Sargassum-Floß in das Gumbo-Limbo-Naturreservat vor der Küste Floridas verfrachtet. So konnte die Kamera in Augenhöhe mit einer kleinen Schildkröte namens Phoebe tauchen, unbehelligt von Stürmen und mit der neu entwickelten HD-Technik auch bei wechselndem Licht. Ein Eissturm vor Neufundland konnte dagegen nur vom Schiff aus gedreht werden: Dort geraten Schildkröten immer wieder in Unwetter, die sie aus der Bahn treiben und unterkühlen.

Erst nach 60 Tagen und 2500 Kilometern erreichen sie den rauen Nordatlantik. Warum treten kleine Meeresschildkröten eine so lange, gefahrvolle Reise an, die Zehntausende von ihnen das Leben kostet? Auf den ersten Blick erscheint das unlogisch. Aber Tatsache ist, dass sie in ihren wärmeren Heimatgewässern mit all den Fressfeinden in noch größerer Gefahr wären. Das gilt auch für Karettschildkröten, die auf der Atlantikinsel Ascension schlüpfen und später an der Küste Brasiliens leben.

Andere Populationen, die in Griechenland, an der Küste des Golfstaats Oman oder am australischen Great Barrier Reef aus dem Ei kriechen, legen vermutlich nicht so weite Routen zurück. "Die Forschung über die Wanderungen der einzelnen Populationen ist noch sehr jung, weil man die winzigen Schildkröten schwer mit Sendern ausstatten kann", sagt Birgit Braun, Artenschutz-Expertin beim WWF.

DNA-Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die atlantischen und indopazifischen Caretta-Caretta-Populationen vor etwa drei Millionen Jahren getrennt haben müssen. Die Art hat also schon Kontinentalverschiebungen, Veränderungen der Küstenformen und der Meeresströmungen erlebt. Die Fähigkeit zur Wanderung hat ihr trotz aller Verluste das Überleben gesichert.

Es ist faszinierend zu sehen, wie die Jungschildkröten die ersten Krabben, Quallenfäden oder kleinen Tintenfische fressen; welche Arten sie begleiten, welche Gefahren sie bestehen müssen. Eine davon ist der im Meer treibende Plastikmüll. Und wenn eine Schildkröte nach 25 oder mehr Jahren an ihren Heimatstrand zurückkehrt, findet sie ihn oft zugebaut wieder - als "Beach Resort" ...

Für alle, die "Die Reise der Pinguine" oder "Nomaden der Lüfte" liebten, wird "Tortuga" ein Doku-Highlight dieses Herbstes sein. Die Musik hätte weniger orchestral sein können. Aber es ist eine wahrhaft epische Reise in die Welt einer Tierart, die selbst die Dinosaurier überlebt hat.