Viel Schicht, wenig Licht: Immer mehr Menschen haben die Kontrolle über ihren Schlaf verloren. Sie leiden unter einem “sozialen Jetlag“ - ihr Alltag entfernt sich von dem Rhythmus, den uns die Evolution einst gab. Ein Report von Irene Jung

Katrin Kling war einmal eine "Lerche". Als notorische Frühaufsteherin schmierte sie ihrem Sohn morgens um fünf Schulbrote, war um sieben die Erste in ihrem Vermessungsbüro und hatte bis zum frühen Nachmittag das Gefühl, sie könnte Bäume ausreißen.

Seit etwa vier Jahren ist die Lerche morgens flügellahm. "Ich komme viel schlechter aus dem Bett, oft fühle ich mich schon mittags ausgepowert", sagt die 48-Jährige. Selbst wenn sie schon um 22 Uhr ins Bett geht, "wird der Kopf einfach nicht leer". Warme Milch mit Honig half nichts, jetzt meditiert sie etwa 20 Minuten lang. "Dabei werde ich ruhiger. Aber sobald ich nachts aufwache, kann ich nicht wieder einschlafen."

Axel Keller (36) war immer schon eine "Eule", ein Nachtmensch. Wenn andere gähnten, bekam er noch Lust auf einen Spätfilm im Kino. Deshalb hatte er auch kein Problem mit seinem Job: Er bearbeitet Softwareaufträge für eine Firma in den USA, die wegen der Zeitverschiebung zwischen 17 und 24 Uhr kommen. Aber: "Seit zwei Jahren habe ich die Kontrolle über meine Schlafzeiten verloren", sagt er. Einschlafen vor sechs Uhr morgens ist so gut wie unmöglich, sein gefühlter Morgen beginnt um 13 Uhr. Muss er um elf Uhr ein Flugzeug erreichen, geht er gar nicht erst zu Bett, denn er hört keine Wecker mehr.

Die meisten Menschen funktionieren nach außen hin gut angepasst an den 24-Stunden-Tagesrhythmus, der sich an der Sonne orientiert. Aber unsere innere Uhr kann auch ganz anders ticken, je nachdem, zu welchem Chronotypus wir gehören: zu den frühaktiven Lerchen, den spätaktiven Eulen oder den glücklichen tagaktiven Kolibris. Die innere Uhr nämlich (und nicht der Wecker) soll eigentlich bestimmen, wann wir aufwachen, wann wir unsere optimale Leistungsfähigkeit erreichen und wann wir müde werden.

Aber das Aufkommen der Elektrizität hat unsere Schlafgewohnheiten dramatisch verändert. Am deutlichsten spüren wir den Kampf zwischen Körperzeit und Weltzeit beim Wechsel von Tag- und Nachtschichten und beim Jetlag - etwa nach einem 22-stündigen Flug von Westeuropa nach Singapur.

Die Wissenschaftler des Instituts für Chronobiologie an der Münchner Maximilian-Ludwig-Universität erforschen unsere innere Uhr, den sogenannten zirkadianen Rhythmus (von lat. circa für ungefähr und dies für Tag). Und sie stellen nun einen bedenklichen Trend fest: Auch ohne Fernflüge wird die Synchronisation der inneren Uhr mit dem Tageszyklus immer schwieriger. Wir lassen fast nichts unversucht, um unseren biologischen Rhythmus zu irritieren.

Die Folge: Immer mehr Menschen leiden unter einem "sozialen Jetlag".

Zu den Störfaktoren gehören:

1. Schichtarbeit hat weltweit zugenommen. Betroffen sind Industriearbeiter, Dienstleister, aber auch viele Selbstständige, die häufig zusätzliche Sonderschichten einlegen müssen.

2. Globale Vernetzung beeinflusst unsere Arbeitszeiten: (Tele-)Kommunikation in andere Erdteile ist rund um die Uhr möglich, Mobilität über mehrere Zeitzonen nimmt zu.

3. Zu wenig Licht: Die meisten Menschen verbringen acht bis zehn Stunden pro Werktag in lichtarmen Innenräumen. Die Lichteinstrahlung liegt selten höher als 500 Lux, selbst in gut ausgeleuchteten Räumen ist sie 100- bis 1000-mal schwächer als unter freiem Himmel (bei bedecktem Himmel 8000 Lux, bei direkter Sonnenstrahlung 300 000 Lux). "Wir Stadtmenschen fahren heute mit der U-Bahn zur Arbeit oder mit dem Auto in die Tiefgarage, sitzen im Büro, gehen im Winter im Dunkeln nach Hause", sagt Ildiko Meny, Ärztin am Institut für Chronobiologie. "Wenn wir fast kein Tageslicht mehr abbekommen, verschiebt sich unser innerer Rhythmus deutlich in den Abend."

4. Licht zur falschen Zeit: Am Abend verwirren wir unsere innere Uhr mit intensiven künstlichen Lichtquellen wie Fernsehgeräten und Computerbildschirmen. Sie suggerieren dem Körper: Es ist heller Tag! Viele Bildschirme sind viel zu hell in "kalten" Farben eingestellt, die als besonders scharf und brillant wahrgenommen werden. Computerspiele, stundenlanges Chatten, Onlinebanking oder Mailen gehören heute für Millionen zum Abendprogramm - aber für das Einschlafen haben sie den gleichen Einfluss wie eine Hallo-Wach-Tablette.

5. Arbeits- oder Schulzeiten können der inneren Uhr zuwiderlaufen, auch wenn sie scheinbar "normal" sind. Der folgende Satz wird vielen Teenagern aus der Seele sprechen: "Sozialen Jetlag haben vor allem die 14- bis 20-jährigen Oberschüler", sagt Ildiko Meny. Während Kinder gerne früh aufstehen, sind Jugendliche während der Pubertät entwicklungsbedingt Eulen. Der optimale Zeitpunkt des Schlafengehens verschiebt sich bei Teenagern bis in die Nacht und der des Aufstehens weiter in den Tag hinein. Erst ab dem 20. Lebensjahr entwickeln sie sich ihrem angeborenen Chronotypus entgegen. Chronobiologen fordern deshalb, die Schulanfangszeiten zu überdenken: Jugendliche sind aufnahme- und leistungsfähiger, wenn sie morgens länger schlafen können.

Alle diese Faktoren führen dazu, dass wir die Signale unserer inneren Uhr ausblenden und den Tag künstlich verlängern. Indem wir Tagesaktivitäten zunehmend in die späten Abendstunden verlegen, lebt unsere Gesellschaft insgesamt heute eulenartiger.

Gerade bei vielen Jüngeren kumuliert sich unter der Woche ein beträchtliches Schlafdefizit, das dann am Wochenende ausgeglichen wird. Ein typisches postmodernes Zeitmuster haben die Münchner Forscher bei der Auswertung von Tausenden Online-Fragebögen festgestellt.

Das hat weitreichende Folgen. "Je stärker der soziale Jetlag, desto mehr greifen Individuen zu Stimulanzien", sagt der Leiter des Münchner Instituts, Professor Till Roenneberg. Unter Schichtarbeitern finden sich signifikant mehr Raucher als unter Menschen, die zu normalen Zeiten arbeiten. Gerade stimulierende Substanzen erschweren es aber der inneren Uhr, mit ihren Müdigkeitssignalen durchzudringen.

Kein Wunder, dass Schlafstörungen heute zum Massenphänomen geworden sind. Folgen dauerhaft schlechten Schlafs sind Burn-out-Syndrom, Herz-Kreislauf-Probleme, Depressionen. Dabei hatte die innere Uhr doch den evolutionären Zweck, uns und anderen Arten die Anpassung an verschiedene biologische Nischen zu erleichtern: Mithilfe des zirkadianen Rhythmus betteten sich nachtaktive Lebewesen in die Zeitnische der Nacht, wir Menschen dagegen nutzten die Zeitnische der Tagesaktivität.

Bei den meisten Lebewesen auf unserem Planeten ist das Licht der auf- und untergehenden Sonne der Taktgeber für ihre Wach- und Schlafphasen. Der gefühlte Tag ist aber nicht bei allen Arten gleich lang, er variiert zwischen 22 und 25 Stunden. Versuche an Testpersonen in den 60er-Jahren zeigten: Beim Menschen sind es genau 24 Stunden und elf Minuten. Darauf würde sich Ihre innere Uhr einstellen, wenn Sie eine Zeit lang in einer lichtlosen, konstant kühlen Höhle lebten. Ihre ererbte Disposition als Lerche oder Eule wird davon nicht tangiert, auch wenn Sie sich eher wie ein Grottenolm fühlen.

Im normalen Alltag werden die Lichtsignale der Sonne von speziellen Rezeptoren im Auge erkannt und an zwei reiskorngroße Strukturen im Gehirn weitergeleitet: den "suprachiasmatischen Nukleus" (SCN). Er ist das eigentliche Steuerungszentrum unserer inneren Uhr. Abends, wenn das Sonnenlicht schwindet, regt der SCN zum Beispiel das sogenannte Pinealorgan im Gehirn dazu an, das Schlafhormon Melatonin zu produzieren.

Der zirkadiane Rhythmus unseres Körpers ist aus gutem Grund kein starres System. Er kann Schlaf- und Wachphasen an die Schwankungen der Sonneneinstrahlung während des Jahres anpassen. Die innere Uhr einer Mutter kann sich auf ein Neugeborenes einstellen, das alle drei Stunden gestillt werden will. Aber solche Anpassungen an Umwelt- und soziale Anforderungen brauchen Zeit.

Ein paar Grundsätze aber kann jeder beherzigen, um das Auftreten des sozialen Jetlags zu vermeiden und besser zu schlafen.

- Setzen Sie sich möglichst viel Tageslicht aus, gehen Sie zu Fuß oder fahren Sie mit dem Rad. Tageslicht ist die wichtigste Orientierung für Ihren Organismus.

- Meiden Sie am späteren Abend starkes Licht: kein Besuch im Sonnenstudio, lassen Sie die Lampen heruntergedimmt. Schalten Sie TV und PC mindestens eine halbe Stunde vor dem Zubettgehen aus.

- Verschaffen Sie sich genug Bewegung, damit Sie abends körperlich müde sind. Ein Gutenachtspaziergang ist besser, als zu später Stunde noch schnell die E-Mails zu checken.

Das Münchner Institut für Chronobiologie hat Online-Fragebögen für Schüler und Schichtarbeitende entwickelt, mit denen jeder herausfinden kann, zu welchem Chronotypus er oder sie gehört: www.thewep.org/chronotypstudie.html