Ein Team der TU Harburg untersucht die Gründe, warum jede neunte Prothese Probleme macht und wieder entfernt werden muss.

Hamburg. Gerade ist wieder eine Kiste mit herausoperierten Hüftprothesen aus dem Ausland an der Technischen Universität Hamburg-Harburg eingetroffen. Am Institut für Biomechanik sollen sie untersucht werden: Woran hat es gelegen, dass die Patienten Probleme bekommen haben mit ihren Implantaten? Und was können Ärzte und Medizinproduktingenieure besser machen? In detektivischer Arbeit widmet sich das Team um Prof. Michael Morlock diesen Fragen.

Im Mittelpunkt der Diskussion stehen derzeit vor allem Großkopf-Prothesen mit einem Durchmesser von mehr als 36 Millimetern, bei denen Hüftpfanne und Gelenkkopf aus Metall sind. Im März hatten britische Wissenschaftler nach Datenanalysen von Patienten mit Metall-auf-Metall-Gelenken gefordert, die Prothesen künftig nicht mehr zu verwenden. Durch Abrieb an dem Metall könnten Ionen austreten und Entzündungen des Gewebes verursachen. Bluttests bei betroffenen Patienten könnten Klarheit darüber bringen, ob schädliche Metallverbindungen wie Chrom oder Kobalt in den Körper gelangt seien.

Im Jahr 2009 wurden in Deutschland mehr als 200 000 künstliche Hüften eingebaut, aufgrund von Gelenk-verschleiß oder Frakturen. Mehr als 23 000 Prothesen mussten gewechselt werden. Dabei handelte es sich aber nicht nur um Metallprothesen: Laut der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) wurde nur ein geringer Anteil von Patienten mit den umstrittenen Implantaten in Deutschland versorgt. Bei anderen Implantaten kommen auch Polyethylen oder Keramik zum Einsatz.

Im April wurden unter anderem von der Arbeitsgemeinschaft Endoprothetik Empfehlungen herausgegeben, wie engmaschig Patienten überwacht werden sollten, die mit den umstrittenen Produkten versorgt wurden. Sie sollten sich bei ihrem Arzt erkundigen; nicht bei allen kommt es zu vorzeitigen Problemen. Auf einer Expertentagung in Hamburg stand das Thema am Wochenende auf dem Programm.

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Das Team um Prof. Morlock befasst sich nicht erst seit der Warnung der Briten mit der Sicherheit von Implantaten, sondern seit etwa 15 Jahren - unter anderem in Zusammenarbeit mit verschiedenen Herstellern. "Wenn ein Implantat versagt, dann kann es drei Verursacher geben", sagt Morlock: "Entweder den Hersteller, das heißt es liegt am Design oder Material des Produkts. Oder der Patient hat sich vielleicht falsch verhalten und ist kurze Zeit nach der Operation gegen ärztlichen Rat schon wieder Tennis spielen gegangen, nur als Beispiel." Dritte Möglichkeit: "Der Arzt hat die Prothese nicht optimal einsetzen können, wie es uns am Simulator möglich ist." Morlock betont, dass in mehr als 90 Prozent der Fälle keine Probleme auftreten. Leider lasse sich aber nie 100-prozentig klären, warum es zu einem "Implantatversagen" komme. "Das ist eine sehr komplexe Fragestellung mit keiner einfachen Antwort."

Die Metall-Hüftprothesen, um die es geht, bestehen in der Regel aus drei Teilen: einer Hüftpfanne, einem großen Kopf, der sich in der Pfanne hin- und herbewegen kann, und einem Schaft. Dieser wird vom Chirurgen in den Kopf "hineingehauen" und dadurch verankert, für das Ende des Schafts ist eine runde Aussparung im Metallkopf vorgesehen.

Kommt ein Implantat zur Untersuchung an die TU, so legt der Medizin-Ingenieur Florian Witt es unter das Mikroskop: Wo genau ist das Metall abgerieben? Laut Morlock ging man zunächst davon aus, dass um die großen Gelenkflächen herum am meisten Metallionen freigesetzt wurden. Das kann in der Tat der Fall sein. Sein Team stellte nun aber fest: Abrieb entsteht auch zwischen Schaft und Kopf an einer nicht so offensichtlichen Stelle.

Doch wie kommt es zu diesem Abrieb? "In der Gelenkfläche bildet sich Gelenkflüssigkeit, also ein Schmierfilm. Die großen Prothesen können unglaublich gut funktionieren, solange dieser Schmierfilm vorhanden ist", erklärt Morlock. Es komme weniger zu Verschiebungen, und der Bewegungsumfang sei größer - nicht unwichtig bei Menschen, die bis ins hohe Alter Sport treiben wollen. Es könne aber sein, dass der Schmierfilm austrockne oder nicht richtig verteilt sei, weil die Prothese nicht im perfekten Winkel eingebaut worden sei. "Bei der Konstruktion haben die Ingenieure nicht daran gedacht, dass diese Prothesen unter OP-Bedingungen bei "echten Menschen" nicht immer perfekt positioniert werden können." Anhand von Röntgenbildern versuchen Morlock und Kollegen in Simulatoren nachzuvollziehen, ob dies der Fall gewesen sein könnte.

Der Abrieb in der Verbindung zwischen Schaft und Kopf wiederum könne etwas damit zu tun haben, dass der Chirurg die beiden Teile nicht mit der richtigen Kraft zusammengefügt hat. Die Doktorandin Annelie Rehmer promoviert dazu und misst mit einem Schlagarm, wie viel Kraft exakt nötig sein muss. "Auf Kongressen können Operateure inzwischen üben, wie viel Kraft sie brauchen", sagt Morlock. Denkbar sei, dass Geräte für den OP auf den Markt kommen, die die Kraft mit Sensoren messen - so müssten sich die Chirurgen nicht auf ihr Gefühl verlassen. Morlock plädiert zudem für eine bessere Ausbildung der Orthopäden. Außerdem sollten Prothesen, die besonders sorgfältig gehandhabt werden müssen, nur an Spezialzentren mit eigens geschulten Operateuren eingesetzt werden dürfen.

Ein Verbot der betroffenen Implantate wurde bislang in Deutschland nicht umgesetzt. Der Markt habe sich aber inzwischen selbst bereinigt, sagt Morlock. Seien vor einiger Zeit etwa bei fünf Prozent der Patienten solche Prothesen eingesetzt worden, so liege der Marktanteil jetzt bei etwa 0,1 Prozent. Genaue Zahlen über Komplikationen gibt es wie im Fall der minderwertigen Brustimplantate der Firma PIP nicht. Im Gegensatz zu Großbritannien hat bislang keine zentrale Datenbank existiert, in der Schadensfälle erfasst werden.

In Deutschland soll nun das Endoprothesenregister Deutschland (EPRD) Abhilfe schaffen und erfassen, wie lange künstliche Knie- und Hüftgelenke im Körper der Patienten bleiben. Damit soll es möglich werden, mehr über die Gründe von Wechseloperationen zu erfahren, ob es zu Schäden gekommen ist oder ein vorzeitiger Verschleiß des Gelenks vorliegt. Das Register wird von Krankenkassen, Fachgesellschaften und Industrie unterstützt. "Eine Pilotphase läuft, der Startschuss fiel im vergangenen Jahr. Wir hoffen, dass es nächstes Jahr endgültig richtig losgeht", sagt Morlock. Allerdings seien die Kliniken nicht verpflichtet, mitzumachen. "Doch weil Kostenträger dabei sind, hoffen wir, dass der Druck groß genug sein wird."

Man müsse "retrospektiv aus den Schadensfällen lernen", sagte Prof. Christoph Lohmann, Präsident der Jahrestagung der Norddeutschen Orthopäden- und Unfallchirurgenvereinigung (NOUV), am Wochenende in Hamburg. Generell mahnen die Experten aber vor zu hohen Ansprüchen der Implantats-Patienten. "Wir kommen mit unseren Materialien an die Grenzen der biomechanischen Belastbarkeit, weil die Patienten beispielsweise auch mit einem künstlichen Gelenk 200 Kilometer Rad fahren wollen", sagte Prof. Carsten Perka, Vorsitzender der NOUV. "Es ist eine gesellschaftspolitische Frage, ob wir das ermöglichen wollen."