Im Tierversuch zeigte sich schon der erste Erfolg. Mit der Anwendung am Menschen wird frühestens in zehn bis 15 Jahren gerechnet.

Hamburg. Eine Querschnittslähmung ist immer ein dramatischer Schicksalsschlag, der das ganze Leben von einem Moment zum anderen verändert. Bislang war es aussichtslos, die durchtrennten Nerven des verletzten Rückenmarks wieder miteinander zu verbinden und damit die Lähmung zu beseitigen. Jetzt arbeiten Wissenschaftler aus dem Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus Hamburg in Boberg mit Kollegen der Technischen Universität Harburg und der Universität Düsseldorf an einer Behandlungsmethode, die genau das ermöglichen soll.

"Wir haben auf Siliciumbasis Mikrochips hergestellt, in denen sich winzige Kanäle von einem Millimeter Länge befinden. Weitere kleine Röhrchen verlaufen quer dazu und können an Schläuche angeschlossen werden", erklärt Prof. Christian Jürgens, Ärztlicher Direktor des Unfallkrankenhauses. Dieser Chip wird an der verletzten Stelle des Rückenmarks eingesetzt. "Wenn man jetzt das Rückenmark an beiden Seiten an diesen Chip heranführt und mithilfe der seitlichen Schläuche in der Mitte einen Unterdruck anlegt, legen sich die Nervenenden aneinander", sagt Prof. Klaus Seide, wissenschaftlicher Leiter des Labors für Biomechanik der Unfallklinik.

Damit ist ein Problem gelöst, das bisher das Zusammenwachsen der verletzten Nerven unmöglich machte. "Das Problem bei Rückenmarksverletzungen ist, dass es ganz schnell zu Vernarbungen kommt. Vernarbtes Gewebe zieht sich zusammen, sodass die Nervenenden zu weit auseinander liegen und nicht mehr zusammenwachsen können", sagt Jürgens. Damit die Nervenenden zusammenwachsen können, sind auch Medikamente nötig. "Denn das verletzte Rückenmark setzt bei Verletzungen Substanzen frei, die ein Aussprossen der Nerven verhindern. Jetzt gibt es aber seit einigen Jahren Substanzen, die diesen Prozess stoppen und das Aussprossen ermöglichen", sagt Seide. Diese Substanzen werden über den seitlichen Schlauch direkt in den Chip gespritzt, ebenso Medikamente, die die Vernarbung der Verletzung verhindern.

Zwar lässt sich mit dieser Methode nicht jeder durchtrennte Nerv exakt wieder verbinden, aber das sei kein Problem, sagt Jürgens, denn das Gehirn könne umlernen und die Nerven so programmieren, dass sie richtig funktionieren. Der Chirurg erklärt diese Fähigkeit des Gehirns anhand eines Beispiels: "Um eine Lähmung an der Hand zu behandeln, können wir Muskeln dorthin verpflanzen, die ursprünglich eine andere Funktion hatten. Sie können vom Gehirn so umprogrammiert werden, dass sie die Funktion des gelähmten Handmuskels übernehmen."

Seit zwei Jahren arbeiten die Wissenschaftler an dieser Methode. Im Sommer des vergangenen Jahres haben sie die Wirksamkeit des Mikrochips das erste Mal im Tierversuch getestet. "Eine Ratte, bei der das Rückenmark im Brustwirbelsäulenbereich durchtrennt war, bewegte die Hinterbeine nicht. Zwölf Wochen nach Einsetzen des Chips zeigte sie gezielte Bewegungen der Hinterbeine und zog die Beine beim Laufen schon an, und die Blasenentleerungsstörung war behoben. Und in der feingeweblichen Untersuchung des Rückenmarks der Ratte zeigte sich, dass tatsächlich Nerven zusammengewachsen waren. Das ist ein bahnbrechender Erfolg", sagt Jürgens. Schon aus anderen Versuchen wisse man, sagt Seide, dass bereits 15 Prozent an intakten Nerven schon reichen, um eine gewisse Funktion zu erreichen.

Doch bis diese Methode querschnittsgelähmten Patienten helfen kann, ist es noch ein weiter Weg. "Wenn alles nach Plan läuft und nicht neuere Erkenntnisse zeigen, dass es nun doch nicht funktioniert, gehe ich davon aus, dass es in frühestens zehn bis 15 Jahren erste mögliche Anwendungen im Rahmen eines individuellen Heilversuchs bei Menschen geben wird", sagt Jürgens. Denn es sind noch viele Fragen ungeklärt. Unter anderem muss ein Operationsverfahren entwickelt werden, mit dem der Chip eingesetzt wird. "Wenn das Rückenmark verletzt ist, muss das gequetschte Gewebe an dieser Stelle entfernt werden.

Dabei stellt sich die Frage, wie es gelingt, das gesunde Gewebe aneinanderzufügen, denn das Rückenmark ist nur begrenzt dehnfähig. Denkbar ist, einen Wirbelkörper zu entfernen, um dann Rückenmark wieder miteinander zu verbinden", sagt Jürgens. Im nächsten Schritt arbeiten die Forscher daran, den Chip weiter zu verbessern. "Wir wollen den Chip aus resorbierbarem Material herstellen, das sich nach einem halben Jahr im Körper von selbst auflöst", sagt Jürgens.