Großer Eindruck mit wenigen Linien: Alfa will mit der neuen Mittelklasselimousine die Automarke wieder zum Leben erwecken – Preise ab 33.100 Euro

    Es war einmal ... So fangen nicht nur die meisten Märchen an. Sondern so erzählen auch Alfa-Fans die Geschichte ihrer Marke. Denn zu viel ist in den letzten Jahrzehnten schiefgelaufen bei der Anonima Lombarda Fabbrica Automobili. Auch wenn die Italiener erst mit dem Supersportwagen 8C und danach mit dem kaum minder exklusiven 4C ein paar hübsche Strohfeuer entfacht haben, gab es einfach zu lange nichts Neues mehr. So ist Alfa ins Koma gefallen und drohte genau wie Lancia leise zu entschlummern. Doch wollen die oberen in Turin den gleichen Fehler nicht ein zweites Mal machen und küssen ihr Schneewittchen deshalb jetzt gerade noch rechtzeitig wieder wach – mit einer neuen Giulia.

    Das Auto, das ab Mitte Juni zu Preisen ab 33.100 Euro gegen Platzhirsche wie die Mercedes C-Klasse, den Audi A4 oder den BMW Dreier antritt, wurde binnen zwei Jahren von einer Truppe von Spezialisten in geheimen Büros und Fabriken weitab des Tagesgeschäfts entwickelt, die diesmal auf keine Konventionen Rücksicht nehmen, keine fadenscheinigen Kompromisse machen und keine Konzernarchitekturen nutzen mussten. Stattdessen haben sie sich in der Geschichte der Marke gewühlt, ihre Stärken herausgearbeitet, aus ihren Fehlern gelernt und so die Kette ihrer DNA wieder repariert, sagt Konzernchef Sergio Marchionne voller Stolz.

    Dass sie dabei aus mancher Perspektive ein bisschen arg an den Maserati Ghibli erinnert, ist ja kein Schaden. Der gehört schließlich zur Familie. Unter dem verführerischen Kleid steckt exklusive designierte Technik

    Dabei haben diese buchstäblich auf einem weißen, bei Alfa wohl eher roten Blatt Papier begonnen und einen atemberaubenden Viertürer von 4,64 Metern gezeichnet, der mit ganz wenigen Linien ganz großen Eindruck macht. Sein Profil erinnert an die Giulietta Sprint aus den Fünfzigern, und aus welcher Perspektive man auch hinschaut, ist die Giulia so leidenschaftlich wie zuletzt vielleicht der Alfa 156, der auch beim Format als Vorbild taugt: Vorn der berühmte dreieckige Kühlergrill, flankiert von mächtigen Lüftern und untermalt von einem großen Splitter. Auf der Motorhaube und in den Kotflügeln zumindest beim Sportmodell Quadrifoglio riesige Nüstern und die Hüften weich und trotzdem kräftig wie bei einer Primadonna – selbst wenn das Heck dagegen fast schon beliebig wirkt, wird die Giulia so zu einem Traumwagen, wie er nur aus Italien und nur von Alfa Romeo kommen kann.

    Unter dem verführerischen Kleid steckt designierte Technik, die Alfa mit keiner anderen Marke teilen muss. So haben die Designer eigens für die Giulia und die sieben weiteren neuen Alfa-Modelle der nächsten anderen Jahre eine Plattform namens Giorgio für Heck- und Allradantrieb entwickelt, eine besonders aufwendige Fahrdynamikregelung programmiert und bei den Konzernbrüdern von Ferrari für ihr sportliches Flaggschiff einen V6-Turbo in Auftrag gegeben. Der leistet 510 PS, katapultiert den Wagen mit seinen bis zu 600 Nm in 3,9 Sekunden von 0 auf 100, reißt locker die 300er-Marke und hat dabei einen Sound, dass man schon beim Anlassen eine Gänsehaut bekommt. „Ein Alfa klingt nicht, er singt“, sagt Chefingenieur Philippe Krieff. Aber der Quadrifoglio brüllt nicht nur wie ein Löwe, er hat auch genau so viel Biss. Perfekt ausbalanciert, vergleichsweise leicht und deshalb wunderbar handlich, bittet die Giulia zum Tanz. Und dieser Aufforderung kommt man nur allzu gerne nach. Von den tiefen Sitzen eng umschlungen und mit beiden Händen fest am Lenkrad, führt man das Mailänder Mädchen entschlossen und bestimmt um den Kurs und merkt dabei gar nicht, dass es eigentlich die Giulia ist, die hier die Führung übernimmt, so intuitiv, so leichtfüßig und so unbekümmert folgt sie dem Rhythmus der Kurven.

    Bei einem Auto, das ernsthaft mit dem BMW M3 konkurrieren will, kann man neben der Längs- auch ein gewisses Maß an Querdynamik voraussetzen. Doch man muss gar nicht nach diesem sündig-süßen 2,9-Liter-Triebwerk greifen, wenn man seinen Puls beschleunigen möchte. Schon der 2,2 Liter große Diesel, den es zum Start mit 136 bis 180 PS gibt, bringt das Blut in Wallung. Nicht umsonst entwickelt er in der vorerst stärksten Ausbaustufe 380 Nm, beschleunigt mit der Achtgangautomatik in 6,8 Sekunden von 0 auf 100 und erreicht 230 km/h. Und nicht ohne Grund macht er einen fast genauso an wie der V6 im Quadrifoglio: Fahren, nicht nur fortbewegen, lautet die Devise, die Krieffs Truppe mit einem gierigen Fahrwerk voller Lust und Leidenschaft umgesetzt hat.

    Mit diesem Set-up soll die Giulia nicht nur die Pulsrate der Passagiere in die Höhe treiben, sondern auch die Absatzzahlen bei Alfa. Zuletzt auf weltweit unter 60.000 Autos gefallen, stehen für 2018 400.000 Zulassungen in der Planung. In Deutschland träumen sie nach Werten unter 3000 Einheiten von fünfstelligen Ergebnissen. Während Alfa-Chef Harald Wester bei der Konkurrenz nur von nüchternen Konstruktionen spricht und vergeblich nach der Seele sucht, hat die Giulia in den Augen der Entwickler ein fast schon menschliches Wesen – und darf sich deshalb womöglich auch ein paar Zicken erlauben. Das Interieur sieht besser aus als es sich anfühlt, die Bedienung ist vor allem beim Infotainment lange nicht so einfach und so wenig ablenkend, wie Alfa Romeo es uns weismachen möchte. Und die Liste der Assistenzsysteme ist bei der Konkurrenz deutlich länger. Doch weil die Giulia zumindest in den Augen der Alfisti der sehnsüchtig erwartete Traumwagen ist, sieht man ihr das nach.

    Sie spielt geschickt mit einem großen Namen und einer langen Tradition, ohne dabei in die Retrofalle zu tappen. Sie sieht gut aus, fährt klasse und kann technologisch besser mithalten als jeder andere Alfa der letzten Jahre: Zwar hat Schneewittchen offenbar so tief geschlafen, dass der Weckruf etwas lauter sein musste und reichlich spät gewirkt hat. Doch das Warten hat sich gelohnt: Mit diesem Auto sieht es so aus, als könnte das Märchen von dem Mailänder Mädchen doch noch ein Happy End haben.