Mit ausgefeilten Assistenzsystemen will Mercedes das Oberklasse-Modell zur intelligentesten Limousine weltweit machen.

Ihren großen Auftritt hat sie zwar erst im Januar auf der Motorshow in Detroit, doch schon jetzt gibt die neue Mercedes E-Klasse ein kleines Gastspiel in Las Vegas. Noch getarnt mit der Tarnfolie der Erlkönige und deshalb so unscheinbar, dass man nur schwerlich den längeren Radstand, die kürzeren Überhänge und die näher an ein Coupé gerückte Dachlinie erkennt, rollt Chefingenieur Michael Kelz damit über die Interstates oder die Wüstenpisten rund um die Glitzermetropole und strahlt mit seinem LED-Pixellicht abends bei der Einfahrt in die Stadt mit den Leuchtreklamen am Strip um die Wette. Dass die E-Klasse sich ausgerechnet in Nevada für die Markteinführung im April warmläuft, liegt nicht nur daran, dass man hier Prototypen gewohnt ist und man in LAs Vegas selbst wahrscheinlich nicht mal mit einem pinken Ferrari auffallen würde. SondernKelz hat seine Erlkönige auch deshalbum die halbe Welt geflogen, weil die Regelungen für das autonome Fahren im Wüstenstaat freizügiger sind als im Rest der Welt. Und gerade in dieser Disziplin will Mercedes mit der E-Klasse neue Maßstäbe setzen.

Im Programm Sport+ lässt die Limousine für kurze Zeit ihre Muskeln spielen

Deshalb sitzt Kelz jetzt schon seit Minuten tatenlos am Steuer, während der Drive Pilot die Arbeit macht. Mit einer neuen Generation von Radar- und Kamerasensoren orientiert er sich noch gründlicher an Fahrbahnmarkierungen und am Vordermann, nimmt mittlerweile auch überraschend scharfe Kurven ohne Lenkeingriff, hält sich jetzt auch automatisch ans Tempolimit und wechselt sogar alleine die Spur.: Kelz muss nur einmal den Blinker antippen, dann wartet sein Prototyp auf eine freie Lücke, schert aus und zieht wie von selbst am Vordermann vorbei. Und sobald der Ingenieur zum zweiten Mal den Blinker setzt, kehrt die E-Klasse bei nächster Gelegenheit wieder auf ihre Spur zurück. Im Grunde hätte Kelz auf den 300 Meilen von Los Angeles nach Las Vegas deshalb auch ein Buch lesen, schnell noch die Modellplanung für Kombi, Coupé und Cabrio sowie die chinesische Langversion der E-Klasse ausfeilen oder noch mal rechnen können, ob sich die neue E-Klasse preislich tatsächlich auf dem Niveau des Vorgängers bewegen kann wie es der Vertrieb verspricht – fürs Fahren jedenfalls braucht er kaum mehr Aufmerksamkeit.

Doch all das, was die E-Klasse mittlerweile kann, ist selbst in Nevada nicht erlaubt, von Deutschland ganz zu schweigen. „Deshalb haben wir noch immer alle möglichen Hinweise im Bordbuch und eine ausgeklügelte Warnstrategie, damit der Fahrer die Hände wieder ans Lenkrad nimmt“, sagt Kelz, während er jetzt schon minutenlang die Arme im Schoß liegen hat. Allerdings haben die Schwaben Tricks eingebaut, wie man seine Aufmerksamkeit nachweisen kann, ohne tatsächlich ins Lenkrad zu greifen. Denn zumindest die ersten drei, vier Warnungen quittiert man einfach, in dem man über die neuen Blackberry-Tasten auf dem Lenkrad streicht – schon ist der Drive Pilot zufrieden und macht weiter seinen Job.
Außerdem hat Mercedes das System so ausgelegt, dass es jederzeit an die aktuelle Gesetzeslage angepasst werden kann. Dass der Drive Pilot jetzt zum Beispiel von 0 bis 210 km/h funktioniert und beim Stillstand im Stau immerhin drei statt bislang zwei Sekunden aktiv bleibt oder das unterstütze Überholen von 60 bis 200 km/h klappt, das wurde erst vor ein paar Wochen entschieden und nachträglich auf die in der Rechenleistung verdoppelten Chips aufgespielt.

Neben den Assistenzsystemen, die jetzt für Fußgänger nicht nur bremsen, sondern auch ausweichen, auf Kreuzungen auf den Querverkehr achten und das Auto mit dem Smartphone als Fernbedienung alleine in die Parklücke rangieren, will Mercedes auch bei der Vernetzung Maßstäbe setzen.Zwar kostet die Navigation im Basismodell unverständlicherweise immer noch Aufpreis. Doch wer alle Kreuze macht, bekommt anstelle der klassischen Tuben nicht nureine grandiose Bildschirmlandschaft mit zwei 12,3-Zoll-Displays und Grafiken oder Kamerabildern schärfer als auf einem 4K-Fernseher. Sondern es gibt zum ersten Mal auch eine Vernetzung mit anderen Fahrzeugen. Wenn die E-Klasse mit einer Panne liegen bleibt, sendet sie dies über einen Server an alle anderen E-Klassen in der Umgebung und warnt sie so automatisch vor der Gefahrenstelle. Das soll sukzessive ausgebaut, auch für andere Fahrzeuge freigeschaltet und auf weitere Ereignisse von Wetterkapriolen bis hin zu Wanderbaustellen ausgeweitet werden. Und selbst der Zündschlüssel wird überflüssig und kann als elektronische Zugangsberechtigung aufs Handy übertragen werden.

So stolz die Schwaben auf die neuen Assistenzsysteme und die Connectivity sind und so weit sie sich im Cockpit in die Zukunft gewagt haben, so wichtig waren Chefingenieur Kelz auch die klassischen Tugenden des Fahrzeugbaus: „Vor allem bei Fahrkultur und Laufruhe wollten wir einen großen Sprung machen“, sagt der Chefingenieur und obwohl er gerade mit guten 130 km/h über extrem rauen US-Asphalt rollt, kann man ihn dabei sogar im Flüsterton verstehen. Denn dank dicker Dämmung und viel Feinschliff im Windkanal ist die E-Klasse innen nicht lauter als die S-Klasse. Die war auch der Maßstab für den Komfort der neuen Sitze, die zwar schlanker werden aber trotzdem bequemer sind als im Vorgänger und sogar mehr Klima- und Massagefunktionen bieten als das aktuelle Flaggschiff. Der Benz für die Bosse ist zwar größer, hinten etwas geräumiger und schindet vor allem außen mehr Eindruck – aber zumindest in der ersten Reihe schmelzen die Unterschiede zusehends dahin.Am meisten Mühe hat sich Kelz bei der Spreizung der Eigenschaften gemacht, damit die unterschiedlichen Modellvarianten und Fahrprogramme auch einen unterschiedlichen Charakter haben. Sein 333 PS starker E 400 aus der Vorserie schwebt deshalb die meiste Zeit wie auf Wolken über die Highways, bis Kelz irgendwann mal in Sport+ wechselt, die Businesslimousine die Muskeln anspannt, eine härtere Gangart anschlägt und kurz den Bodybuilder raushängen lässt. Spätestens da merkt man dann auch, dass der Wagen 70 Kilo leichter wurde.

Es allen recht zu machen, das ist bei E-Klasse allerdings schwerer als bei jedem anderen Mercedes-Modell, stöhnt Kelz. DennVom spärlich motorisierten und spartanisch ausgestatteten Taximodell bis hin zum kraftstrotzenden AMG muss keine andere Baureihe so eine Bandbreite von Ansprüchen und Ambitionen abdecken. Entsprechend viel Varianz hat Kelz dafür eingeplant: Er hat zwei unterschiedliche Stahlfedern und eine Luftfederung ausgewählt und die Fahrprogramme weiter auseinander gerückt. Dazu gibt es Räder von­ 16 bis 20 Zoll, Schalt- oder 9-Gang-Automatikgetriebe, Heck- oder Allradantrieb und mittelfristig bald ein Dutzend Motorvarianten. Los geht es mit einem E 200 mit 184 PS und einem neuen, jetzt aus Aluminium gegossenen und deshalb 40 Kilo leichteren 2,0-Liter-Diesel von 194 PS im E 220d. Doch während es mit dem AMG bis hinauf zu rund 600 PS gehen wird, ist auch nach unten noch viel Luft. So wollen die Schwaben schon vor der Premiere mit ihren Plug-in-Hybriden auf einen CO2-Wert von um die 100 Gramm kommen, was einem Normverbrauch von 3,9 Litern entspricht.

Einerseits kann Kelz stolz sein auf die vermutlich beste E-Klasse aller Zeiten. Doch der Chefingenieur weiß, dass er sich damit intern nicht nur Freunde macht und musste oft streiten, damit er manche Extras vor der S-Klasse bekommt. Doch der Chef der Baureihe weiß auch, dass er den Vorsprung wohl nicht lange halten wird. Weniger weil BMW im nächsten Jahr einen neuen Fünfer bringt und bei Audi in zwei Jahren der nächste A6 ansteht. Sondern vor alle, weil 2017 auch die S-Klasse ein gründliches Update bekommt. Dann ist die Hackordnung in Stuttgart wieder hergestellt.