Mit einem neuen Konzept gestaltet die Hamburger Schulbehörde den Verkehrsunterricht noch praxisnäher. Aber auch die Eltern sind gefragt.

Hamburg. Alexandra, Marten, Suleicha und Sulejman, Viertklässler an der Schule Potsdamer Straße in Rahlstedt, umkreisen mit ihren Rädern die Tischtennisplatten auf dem Schulgelände. "Rechter Arm zur Seite, jetzt an den Helm, wieder an den Lenker und Vollbremsung", sagt Torsten Fischer. Der Hauptkommissar unterrichtet Verkehrserziehung an acht Grundschulen im Stadtteil. In ganz Hamburg arbeiten 72 solcher Verkehrslehrer. Bei einer anschließenden Tour durch verkehrsberuhigte Straßen übt der 54-Jährige mit den Jungen und Mädchen das Linksabbiegen, Umfahren von Hindernissen und Erkennen von Fahrzeugen im toten Winkel. Seine erschreckende Erkenntnis: "Die Kinder haben auf dem Rad enorme Schwächen."

Wer als junger Radfahrer sicher und umsichtig unterwegs ist, bewegt sich später auch als Kraftfahrer und Fußgänger souverän im Straßenverkehr. Doch laut einer Studie der Unfallforschung der Versicherer (UDV) weisen mittlerweile vor allem Stadtkinder - insbesondere Mädchen mit Migrationshintergrund, übergewichtige und überbehütete Kinder - motorische Defizite sowie mangelhafte Kenntnisse von Verkehrsschildern und -regeln auf.

"Schon die Räder, die sie mitbringen, haben erhebliche technische Mängel", konstatiert Torsten Fischer. Allein in einer 4. Klasse der Schule Potsdamer Straße hatten zehn von 25 Schülern keine verkehrstüchtigen Fahrräder, elf konnten nicht einhändig fahren. "Lediglich sieben Jungen und Mädchen haben die nötige Sicherheit", resümiert der Verkehrslehrer. Auch in der aktuellen Verkehrserziehungsstunde erscheint ein Junge mit zu kleinem Helm, ein Mädchen fährt trotz einer Größe von 1,30 Meter auf einem Rad mit 26er-Rahmen. "Viel zu groß", sagt Fischer. Darauf könne sie noch gar nicht sicher fahren.

Dass dies kein Einzelfall ist, belegt der Verkehrslehrer anhand von Zahlen. 39 aller 367 Jungen und Mädchen, die Fischer im vorigen Jahr in Verkehrserziehung unterrichtete, wiesen solche Schwächen auf. Ein Trend, versichert der Hauptkommissar, der sich in den vergangenen zehn Jahren verschärft hat, denn vor zehn Jahren waren lediglich 13 von 452 Verkehrsschülern auffällig.

Torsten Fischer kennt die Hauptursachen: "Kinder bewegen sich zu wenig, spielen seltener draußen." Daher würden ihre motorischen Fähigkeiten nachlassen. Das sieht Maria Wörner, Grundschullehrerin an der Schule Genslerstraße, ebenso: "Die meisten schauen in ihrer Freizeit zu häufig fern oder sitzen vorm Computer", sagt sie. Dadurch sei die Bewegungssicherheit schon bei Schulanfängern sehr stark eingeschränkt. Auch zahlreiche Mütter fahren immer seltener Rad. Und wenn doch, tragen sie keinen Helm, fügt eine andere Kollegin warnend hinzu. Das führt dazu, dass auch immer mehr Kinder mit zunehmendem Alter das Helmtragen als "uncool" empfinden. Babette Schmid, Lehrerin in der Schule am Walde in Ohlsdorf, beobachtet: "Viele Mütter und Väter bringen die Kinder trotz kurzer Wegstrecken mit dem Auto zur Schule." Dadurch allerdings verlernt der Nachwuchs, aktiv am Straßenverkehr teilzunehmen. "Eltern unterschätzen oft ihre Wichtigkeit als Vorbildfigur", findet Sabine Bohn, Lehrerin an der Schule Richardstraße in Eilbek.

Auch Gunter Bleyer, in Hamburg bei der Behörde für Schule und Bildung für Verkehrserziehung verantwortlich, wünscht sich mehr Elternengagement. "Um Kinder zu sicheren Radfahrern zu machen, reichen drei Stunden Verkehrserziehung pro Schuljahr nicht aus", sagt er. Mit dem Kauf eines Fahrrades sei es noch nicht getan. Eltern sollten gemeinsam mit ihren Kindern häufiger einmal Ausflüge unternehmen. Seit 1992 setzt sich Bleyer für eine Verbesserung der Verkehrserziehung ein, die inzwischen vermehrt vom Schulhof auf die Straße ausgedehnt wurde. "Jungen und Mädchen lernen Verkehrszeichen und -regeln am besten im handlungsorientierten Umgang", erklärt er seine Initiative.

In der Schule beginnt die Verkehrslehre schon in der 1. Klasse. Beim Schulwegtraining lernen Kinder - begleitet durch Lehrer und ältere Schüler - Gefahrenpunkte ihres Schulweges kennen. "In der 3. oder 4. Klasse steht sicheres Fahrradfahren auf dem Lehrplan", sagt Bleyer. Sechs Stunden Theorie und etwa drei Stunden Fahrpraxis sind dafür anberaumt. Zur Dokumentation und Intensivierung des Gelernten hat die Schulbehörde nun ein Fahrrad-Tagebuch entworfen. "Auf ihren Stadtteil bezogen lernen die Schüler in praxisnahen Übungen, Verkehrssituationen richtig zu bewerten. Am Ende der Ausbildung erhält jedes Kind einen Radfahrpass. "Eltern, Polizei und Schule müssen künftig noch enger zusammenarbeiten", wünscht sich Bleyer. Radfahrübungen sollten nicht nur in der Verkehrserziehung, sondern auch im Sach-, Sport- oder Nachmittagsunterricht stattfinden. Die Verkehrserziehung soll auch nach der 4. Klasse anhand einzelner Projekte an der Schule fortgesetzt werden. Beschrieben sind zahlreiche praktische Übungen für die Jahrgänge 5 bis 7 in der Broschüre "Fahrrad mobil" - herausgegeben von der Behörde für Schule und Bildung.

"Ab diesem Alter wechselt das Fahrrad seine Funktion", erläutert Bleyer. War es zuvor vor allem als Spielgerät eingesetzt, wird es dann häufiger als Verkehrsmittel genutzt. Neben dem Weg zur neuen Schule legen Jungen und Mädchen damit auch Strecken zu Nachmittagsaktivitäten wie Sport oder Musikunterricht zurück. Gerade dann erhöhen sich laut Bleyer auch die Verkehrsunfallzahlen bei Kindern. 792 Kinder verunglückten 2008 auf Hamburgs Straßen, 295 davon mit dem Rad. 61 Prozent aller Verunglückten waren zwischen zehn und 15 Jahre alt.