Mercedes erprobt eine neue Elektronik, die Fußgänger erkennt und im Notfall in Steuerung und Bremse eingreift. Zur Serienreife fehlen aber noch Jahre.

Stuttgart. Eine Hand liegt locker am Lenkrad, der Blick ist nach vorn gerichtet, doch die Gedanken kreisen noch um die letzte Besprechung. Schilder, Ampeln, Passanten - alles wirkt wie die Kulisse eines Films. Mit einem Mal aber meldet sich die Realität zurück: Wie aus dem Nichts taucht ein Kind auf, das seinem Ball nachläuft. Zum Bremsen ist es zu spät.

Geht es nach den Forschern von Daimler, müssen solche Situationen nicht in einem Albtraum enden. Seit gut zehn Jahren arbeiten sie an einem elektronischen Ausweichassistenten, der die mangelnde Reaktionsfähigkeit des Fahrers ausgleichen soll. Der Bedarf für ein solches System ist da: Bei 14 Prozent aller tödlichen Verkehrsunfälle in Deutschland sind Fußgänger die Opfer. Die Situation mit dem Kind könnte mit dem neuen Assistenzsystem glimpflich enden. Denn das Auto würde dem Fahrer das Lenkrad aus der Hand nehmen und einen Haken schlagen.

Die silberne S-Klasse auf dem Mercedes-Testgelände in Sindelfingen ist mit einer Stereokamera hinter dem Rückspiegel ausgerüstet. Der Tempomat hält das Auto auf Tempo 50, man denkt nichts Böses, aber ahnt natürlich, dass etwas kommt. Wie rasant das dann abläuft, überrascht am Ende doch: Plötzlich schnellt hinter einer weißen Holzwand eine Fußgängerattrappe hervor. Das Auto - nicht der Fahrer - reagiert blitzartig: Zwischen dem Erfassen des Fußgängers durch die Stereokamera und dem Ausweichen liegen nur 0,2 Sekunden, damit ist die Technik gut dreimal so schnell, wie es ein Mensch sein könnte. Das Lenkrad bewegt sich kurz nach links, der Wagen fährt einen Bogen und bleibt dann stehen. Automatisch gebremst wird ganz nebenbei auch.

Danach Fragen im Wagen: Wer hätte es geschafft, ohne Hilfe des Ausweichassistenten die Puppe zu umfahren? Niemand. Und wie hat es sich angefühlt, nicht mehr Herr über das Fahrzeug zu sein? Unspektakulär, aber auch unheimlich. Anschließend geht es noch einmal auf die Strecke. Diesmal ist die Puppe früher zu sehen, das System trifft eine andere Entscheidung: Ausweichen unnötig, die S-Klasse bremst automatisch und kommt vor der Puppe zum Stehen.

"Die Stereokamera arbeitet ähnlich wie das menschliche Auge. Es erkennt Bewegungen, Geschwindigkeiten, Entfernungen und Richtungen", sagt Bharat Balasubramanian, Direktor Konzernforschung und Vorentwicklung bei Daimler. Anhand von Größe, Bewegung und Oberflächenstruktur kann der Computer Fußgänger identifizieren und sie auch von Mülltonnen und Baustellenmarkierungen unterscheiden. "Das war nicht immer so. Wir mussten dem System über Jahre hinweg beibringen, was ein Fußgänger ist und was nicht", erzählt Ingenieur Markus Enzweiler. "Fehlalarm haben wir nur noch selten. Unsere Quote liegt zurzeit bei 95 Prozent." Bis ein solches Assistenzsystem in Serie gehen wird, muss die Fehlerquote jedoch bei null liegen, sagt Balasubramanian.

Bis Tempo 70 scannen die beiden Kamera-Augen einen acht Meter breiten und 30 Meter langen Korridor vor dem Fahrzeug. Doch nur wenn das System sicher ist, dass genug Freiraum vorhanden ist, macht der Wagen den 80-Zentimeter-Schlenker. "Wenn das nicht der Fall ist, wenn der Fluchtweg also nicht vollkommen frei ist, dann wird nur eine Vollbremsung eingeleitet", sagt Hans-Georg Metzler, Leiter Assistenzsysteme und Fahrwerk in der Forschungsabteilung. Daimler möchte mit diesem System, das in fünf bis zehn Jahren in Serie gehen könnte, Sicherheit verkaufen. Doch im Moment sind die Macher selbst noch unsicher. Schließlich soll sich der Fahrer nicht bevormundet fühlen. "Das ist das erste Mal, dass es einen automatischen Lenkeingriff gibt, das erste Mal, dass das Auto in eine andere Richtung fährt, als der Fahrer vorgibt", sagt Balasubramanian. Doch verführt ein solches System nicht dazu, dass sich der Autofahrer zu sicher fühlt und während des Fahrens Dinge tut, die er besser lassen sollte? Berthold Färber, Unfallforscher und Verkehrspsychologe an der Bundeswehr-Universität München, hält solche Befürchtungen für unbegründet: "Nicht-Konzentration ist kein bewusster Vorgang. Der Fahrer wird nicht ins Auto steigen und sagen: ,Heute passe ich mal nicht auf, schließlich habe ich ja einen Ausweichassistenten.'" Auch moralisch hält Färber solche Hilfssysteme für unbedenklich, da das Auto im Zweifelsfall nur bremst und nicht die Entscheidung treffen muss, ob es bei dem Ausweichmanöver eventuell einen anderen Unfall in Kauf nimmt.

Kritischer sehen das Juristen. "Der Gesetzgeber hat sich noch nicht damit befasst, ob solche Systeme, die in die Lenkung eingreifen, überhaupt erlaubt sind", sagt Markus Schäpe, Rechtsexperte beim ADAC. Nach der aktuellen Rechtsprechung müsse der Fahrer die letzte Entscheidung selbst treffen. Hans-Georg Metzler von Daimler sieht darin keinen Widerspruch: "Dem Fahrer soll mit unserem Ausweichassistenten die Verantwortung gar nicht abgenommen werden. Er bleibt Herr des Geschehens, er kann das System jederzeit überstimmen." Wenn er schnell genug ist.