Für viele ältere Menschen ist ihre Mobilität in vertrauter Umgebung besonders wichtig.

Köln. Wolfgang Gringmuth ist 89 Jahre alt und viel mit dem Auto unterwegs. Der Herr mit dem schlohweißen Haar braucht ein Hörgerät und geht am Stock. Ständige Schmerzen am Knie und Arthrose machen ihm das Laufen schwer, jeder Schritt kostet Kraft. Ohne seinen Wagen ginge für ihn nichts mehr. "Meine Mobilität, die ist mir sehr wichtig", sagt er. Hinter dem Steuer fühle er sich noch recht sicher, erklärt Gringmuth und zieht einen vergilbten Wehrmachts-Führerschein hervor, ausgestellt vor sieben Jahrzehnten.

In der "Obergutachterstelle zur Beurteilung der Eignung von Kraftfahrzeugführern" in Köln hat sich der Senior als Testperson gemeldet. Eine Studie untersucht derzeit Fahrverhalten und Fahrtüchtigkeit bei älteren Menschen. In vertrautem und unbekanntem Umfeld steuern für den Test 150 Senioren zwischen 60 und 90 Jahren ihren Wagen unter Aufsicht durch Nordrhein-Westfalens Straßen. Ihre Ergebnisse werden später mit denen von rund 50 jüngeren Testfahrern verglichen.

Gringmuth sitzt seit Jahrzehnten hinterm Steuer, hat mindestens eine Million Kilometer mit dem Auto zurückgelegt, schätzt er gegenüber Versuchsleiterin Annika Grünthal, die mit ihm zu Beginn der Studie einen Fragebogen durchgeht. Dreimal hat er einen Unfall verschuldet, immer mit geringem Sachschaden. Privat fahre er täglich, erzählt er. "Das Auto brauche ich für Einkäufe und Besorgungen und für Verwandtenbesuche, und außerdem erledige ich noch Fahrdienste für die Gemeinde." An der Studie beteiligt er sich, weil er sich schon immer mal überprüfen lassen wollte. "Reizbar bin ich nicht, fahre eher langsam und aufmerksam, nicht ängstlich, sondern eher sicher, aber auch angespannt und defensiv", schätzt der Senior seinen eigenen Fahrstil ein. Ob er je daran gedacht habe, seinen Führerschein abzugeben", will die Versuchsleiterin wissen. "Nein", so die prompte Antwort, "obwohl die Familie immer mal wieder die Frage aufwirft . . ."

Konzentriert wendet er sich Teil zwei der Studie zu, dem Fahrsimulator in der Kölner Gutachterstelle. "Es geht um Reaktionsvermögen und verschiedene Facetten der Aufmerksamkeit", erklärt Projektleiter Christian Zimmermann. Vor Gringmuth ist ein Computer aufgebaut. Wie im Auto sitzt er am Lenkrad, an seinen Zeigefingern sind Sensoren befestigt. Gas- und Bremspedal soll der Proband bedienen, zugleich in der Spur bleiben, Hindernissen ausweichen und auf Lichtsignale reagieren. Leicht legt sich Gringmuth nach rechts oder links in die Kurven, drückt meist zur rechten Zeit den Sensor, hält das Steuer insgesamt ruhig und bleibt überwiegend in der Spur. "Es war anstrengend, aber nicht überfordernd", meint er anschließend.

Der Leiter der Studie, der Kölner Psychologe und Verkehrsexperte Egon Stephan, plädiert dafür, Senioren trotz festgestellter Einschränkungen möglichst lange fahren lassen. Allerdings nur in ihrem Wohnumfeld. "Um Autonomie und Selbstständigkeit möglichst lange zu erhalten, ist gerade für ältere Menschen ihre Mobilität im vertrauten Radius besonders wichtig." Hierzulande besitzen 13,3 Millionen Männer und Frauen im Alter von über 60 Jahren einen Führerschein. Autofahren heißt für sie mobil bleiben. Das eigene Wohnumfeld sei den Senioren "bekannt wie die eigene Westentasche." Der Einzug des Führerscheins sei gerade für alte Menschen ein schwerer Einschnitt. Das bestätigt auch Wolfgang Gringmuth: "Für mich ist Autofahren keine Sache der Begeisterung, sondern das Auto ist ein unverzichtbares Objekt, das mich mobil hält", erzählt er, während er im Wagen der Versuchsleiterin nach Düsseldorf gebracht wird. Dort wartet schon Heinz Krupp mit seinem Fahrschulwagen. Der Kölner Senior verstaut seinen Gehstock im Auto. Und dann geht's los - auf unbekanntem Düsseldorfer Terrain. Allerdings vor Aufregung zunächst unangeschnallt.

Auf der Rückbank protokolliert Versuchsleiterin Annika Grünthal per Knopfdruck den ersten Verhaltensfehler des Probanden. Etwas ruckelig setzt sich der Wagen in Richtung Innenstadt in Gang. Eine grüne Fußgänger-Ampel hätte Gringmuth beinahe übersehen. Der Fahrlehrer greift ein, auf der Rückbank drückt Annika Grünthal einen Knopf für "schweren Fahrfehler". Doch dann wird der 89-Jährige gelassener. Den Blinker setzt er meist rechtzeitig, die Schaltung bereitet ihm offenbar keine Mühe. "Jetzt rechts?" fragt er, und schon ziehen seine Hände das Lenkrad ruhig nach rechts.

Gringmuth kommt einer kreuzenden Fußgängerin plötzlich gefährlich nahe, ohne es zu registrieren. Wieder greift Fahrschullehrer Heinz Krupp ein. Mehrfach bleibt der alte Herr nicht in der Fahrspur - scheint das aber gar nicht zu bemerken. Der Versuchsleiterin entgeht dagegen nicht der kleinste Patzer. Ab und zu verliert Gringmuth auch den Tacho aus dem Blick. Die Nadel steigt in der Stadt auf über 60 km/h. Und so drückt die Psychologie-Studentin wiederholt die Taste 7 für "schwere Fahrfehler". Nach der gut 30-minütigen Fahrt sind die Kräfte des Probanden längst nicht aufgebraucht. "War es sehr schwer für Sie?", fragt der Fahrschullehrer. Die Antwort lautet "nein". Beim folgenden Fragebogen kreuzt Gringmuth an, er habe die Aufgaben recht "gut bewältigt".

Vier Stunden sind am Testtag für den Senior vergangen. Der fühlt sich noch recht munter und steigt wieder in den Wagen der Versuchsleiterin in Richtung Köln ein. Dort absolviert er eine Fahrt in vertrauter Umgebung. "Ich finde die Idee gut, dass Senioren mit Einschränkungen nur noch für bestimmte Strecken weiter ihren Führerschein behalten sollen. Es macht viel aus, wenn man die Gegenden kennt und weiß, wo es Gefahren geben könnte", sagt Gringmuth.

Fahrübungen für alte Menschen hält er für sinnvoll. Auch Tests, die überprüfen, wie es mit der Fahrtüchtigkeit aussieht, befürwortet der Senior. "Wenn man älter ist, überlegt man sich, was man vielleicht lieber nicht mehr tun sollte. Ich verzichte auf Nachtfahrten und halte mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Es ist mir egal, wenn alle an mir vorbeirauschen."

Für die Kölner Testfahrt im vertrauten Umfeld lässt Gringmuth nun den Motor an. Gleich zu Beginn unterlaufen ihm mehrere Fehler. Den Schulterblick vergisst er, die Spur verlässt er, das Gebot rechts vor links missachtet er. Der 89-Jährige fährt bedacht bis zögerlich, kommt oft kaum über Tempo 40 hinaus. Zu selten schaut er sich ausreichend um, wie der Versuchsleiterin auffällt. Oft scheint dem Fahrer der Überblick zu fehlen. Allerdings macht sich auch allmählich die Belastung des Testtages bemerkbar, der nun bereits sechs Stunden dauert.

"Das war anstrengend", resümiert Gringmuth nach der abermals 30 Minuten dauernden Fahrt. Die erste Bilanz der Versuchsleiterin, die bereits mehr als ein Dutzend Testfahrten begleitete, fällt nicht allzu gut aus. "Ich hatte mehrere über 80-jährige Probanden, viele sind tadellos gefahren, und ich habe mich sehr sicher gefühlt." Leider habe die jüngste Fahrt "nicht im oberen Drittel" gelegen, gibt Grünthal nach Fahrtende ihre Eindrücke ans Team weiter.

Als Letztes werden noch Reaktion und Gedächtnis getestet. Zwar traut er sich hier anfangs nicht so viel zu. Tatsächlich schafft er die Aufgaben aber erstaunlich gut, legt per Knopfdruck Dreiecke am Bildschirm in die richtigen Winkel oder ordnet kurz eingeblendete Figuren aus dem Gedächtnis in die korrekte Reihenfolge.

"Das war alles sehr interessant", verabschiedet sich der Herr mit dem schlohweißen Haupt am Ende eines langen Tages formvollendet von dem kleinen Testteam. Langsam geht Wolfgang Gringmuth dann zu seinem privaten Wagen. Kann er denn nach so einem langen Tag denn überhaupt noch Auto fahren? "Aber sicher", sagt er. "Kann ich Sie vielleicht noch irgendwo hinfahren?"