Hamburg/Warschau. Am 4. Juli 1943 um 23.07 Uhr hob ein schwerer Bomber des amerikanischen Typs "Liberator II" von der Startbahn des britischen Flughafens in Gibraltar ab. Die viermotorige B-24, mit rund 20 000 Exemplaren in größerer Stückzahl gebaut als jedes andere US-Militärflugzeug, galt als äußerst zuverlässig. Doch Seriennummer AL 523 sackte nur 16 Sekunden nach dem Start ab, drehte sich auf den Rücken und stürzte in das flache Wasser des Mittelmeers. Das Fahrwerk war noch nicht einmal eingezogen.

In dem Wrack starben neun Personen, nur der tschechische Pilot Eduard Prchal überlebte. Doch die Anwesenheit eines der Passagiere ließ sofort Spekulationen aufkommen, dass es sich bei dem Absturz möglicherweise nicht um einen Unfall gehandelt haben könnte: Wladyslaw Sikorski, Oberbefehlshaber der polnischen Armee und der Exilstreitkräfte, Premierminister Polens 1922-23 und nach 1939 der polnischen Exilregierung.

Sikorski, der nach der Niederlage Polens gegen die Wehrmacht 84 000 Soldaten in Frankreich aufstellte und nach der Niederlage Frankreichs sofort daran ging, eine Exilarmee in Großbritannien aufzustellen, ist ein polnischer Kriegsheld.

Und die Umstände seines Todes sind derart von politischen Verschwörungstheorien umwoben, dass sich Polens Staatspräsident Lech Kaczynski in seltener Einmütigkeit mit Regierungschef Donald Tusk dafür ausgesprochen hat, die sterblichen Überreste Sikorskis exhumieren und untersuchen zu lassen.

Der Krakauer Erzbischof, Kardinal Stanislaw Dziwisz, hat jetzt seine Erlaubnis dazu erteilt.

Sikorski war 1943 zunächst auf dem Friedhof der polnischen Flieger in Newark bei Nottingham beigesetzt, 1994 jedoch in den Dom der Wawel-Königsburg in Krakau umgebettet worden.

Wladyslaw Sikorski hatte sich mit seinem kompromisslosen Eintreten für Polens Interessen mächtige Feinde geschaffen.

Der Dramatiker Rolf Hochhuth stellte in seinem Stück "Soldaten" Kriegspremier Winston Churchill als Auftraggeber von Sikorskis Ermordung dar. Diese Ansicht vertritt auch der polnische Historiker und Publizist Dariusz Baliszewski. Er behauptet sogar, Sikorski sei bereits im Palast des britischen Gouverneurs in Gibraltar ermordet worden. Der Absturz, bei dem unter anderem auch Sikorskis Tochter sowie sein Stabschef Tadeusz Klimecki ums Leben kamen, sei nur zur Tarnung inszeniert worden.

Sikorski wehrte sich vehement gegen Pläne, Polens Territorium auf dem Altar der sowjetisch-alliierten Achse zu opfern.

Sikorskis Flugzeug hatte an dem Unglückstag längere Zeit unbewacht auf dem Rollfeld gestanden, daneben parkte eine sowjetische Maschine. An Bord: Moskaus Botschafter Ivan Maisky und ein Trupp Soldaten.

Als zweiter Verdächtiger gilt Diktator Josef Stalin. Denn Sikorski war dem skrupellosen Georgier nicht nur wegen seiner unbeugsamen Verteidigung polnischer Interessen ein Dorn im Auge: Sikorski machte enormen Druck, um die wahren Hintergründe des Massakers von Katyn aufklären zu lassen.

In einem Wald bei Katyn unweit Smolensk hatten Einheiten des sowjetischen Innenministeriums NKWD 1940 im Frühjahr 4600 polnische Offiziere per Genickschuss liquidiert. Es war Teil eines mörderischen Programms, mit dem Stalin die polnische Elite dezimieren wollte. Stalin lastete den Massenmord von Katyn den Deutschen an; eine Enthüllung der Wahrheit hätte dem britisch-sowjetischen Bündnis Schaden zugefügt.

Und als Sikorski beim Roten Kreuz eine Untersuchung beantragte, brach Stalin die Beziehungen zur Exilregierung ab und brandmarkte Sikorski kurzerhand als Nazi-Kollaborateur. Übrigens: Ein Moskauer Gericht lehnte gestern erneut eine Rehabilitierung der Katyn-Opfer ab.

Und noch ein Umstand ist bemerkenswert im Sinne einer Verschwörungstheorie: Der britische Geheimdienstchef in Gibraltar war zu dieser Zeit ein gewisser Kim Philby, ehemaliger Ausbilder einer Sabotage-Einheit. Philby lief 1963 in die UdSSR über - später stellte sich heraus, dass er bereits seit den 40er-Jahren Doppelagent gewesen war. Moskau ehrte einen seiner größten Spione, der 1988 76-jährig starb, sogar mit einer eigenen Briefmarke. "Hat Philby Polens Kriegshelden ermordet?", fragte der Londoner "Daily Telegraph" vergangene Woche.

Sollten jemals Beweise dafür auftauchen, dass London an einem Attentat auf Polens Kriegshelden Wladyslaw Sikorski mitgewirkt hatte, könnte dies noch nach 65 Jahren die britisch-polnischen Beziehungen schwer beschädigen. Alle britischen Akten zum Tod Sikorskis unterliegen allerdings bis zum Jahr 2050 strikter Geheimhaltung.