Nur wenige Wochen bleiben, um den Mörder des Dissidenten Georgi Markow zu fassen. Es droht Verjährung.

Hamburg/London. Georgi Markow spürte einen kurzen, scharfen Schmerz im Bein. Er wandte sich um und sah einen kräftig gebauten Mann, der ihn offenbar mit der Spitze seines Regenschirmes angestoßen hatte. "Oh, das tut mir leid", sagte der Mann mit fremdem Akzent und sprang in ein Taxi.

Markow, der gerade über die Londoner Waterloo Bridge zur Bushaltestation geschlendert war, maß dem Vorfall keine besondere Bedeutung bei. Bis er abends hohes Fieber bekam und bemerkte, dass die Stelle, an der ihn der Regenschirm getroffen hatte, hochrot und entzündet war. Markow wurde am nächsten Morgen ins St.-James-Hospital in Balham eingeliefert, wo er drei Tage später starb. Er war erst 49 Jahre alt. Seine Schilderungen von dem Ereignis an der Bushaltestation hatten die Ärzte misstrauisch gemacht; sie informierten die Polizei. Scotland Yard ordnete umgehend eine Autopsie an - und die Pathologen staunten nicht schlecht über das, was sie da fanden.

In der Wade von Georgi Markow entdeckten sie eine winzige Kugel im Durchmesser von 1,5 Millimetern. Sie bestand aus 90 Prozent Platin und 10 Prozent Iridium. Zwei sich kreuzende Bohrungen erzeugten einen knapp 0,3 Kubikmillimeter großen Hohlraum, in dem sich Spuren des tödlichen Giftes Rizin fanden. Gegen dieses hochtoxische Protein aus dem Samen der Rizinus-Staude gibt es kein Gegenmittel. Vermutlich reicht bereits ein einziges Molekül Rizin, um eine Zelle abzutöten. Es wird in der Liste 1 der Chemiewaffen-Konvention geführt, in der die giftigsten Toxine enthalten sind.

Die Öffnungen der mit dem Gift gefüllten Kugel waren mit einer Art Zucker verschlossen gewesen, der bei 37 Grad Körpertemperatur schmolz und das Rizin freigab. Georgi Markow war auf äußerst raffinierte Weise ermordet worden.

Dieser spektakuläre Mord ereignete sich bereits am 7. September 1978 - und ist noch immer ungesühnt. Doch jetzt hat Scotland Yard den fast 30 Jahre alten Fall wieder aufgenommen. Denn wenn es bis zum 11. September, dem Todestag Markows, nicht gelingt, den Täter zu fassen, müsste der Fall als ungelöst abgelegt werden.

Dabei sind eigentlich alle Umstände bekannt - sogar der Täter selbst. Ein mehrköpfiges Team der Anti-Terror-Abteilung des Yard war gerade zwei Wochen lang in Bulgarien, da neue Beweise aufgetaucht sind. Zum Beispiel ein ganzes Arsenal an derartigen Killer-Regenschirmen in den Katakomben des Innenministeriums. Die Giftkugeln konnten offenbar mit Luftdruck oder einem Federmechanismus abgeschossen werden. Zudem durften die Briten 40 Zeugen befragen, darunter hohe ehemalige Polizei-Offiziere des bulgarischen Regimes.

Der Mord-Verdacht war bereits damals sofort auf den bulgarischen Geheimdienst Durschawna Sigurnost (DS) gefallen. Denn Markow war keineswegs ein gewöhnlicher britischer Bürger. Er war ein bulgarischer Dissident, preisgekrönter Journalist, Schriftsteller und gefeierter Theater-Autor. Wegen seiner mutigen Kritik am bulgarischen Kommunismus und speziell am Führungsstil von Staats- und Parteichef Todor Schiwkow, der so Moskau-treu war, dass er einst sogar ernsthaft vorschlug, Bulgarien der Sowjetunion anzuschließen, war Markow auf die schwarze Liste des Geheimdienstes geraten. Er floh zunächst nach Italien, dann nach London, arbeitete dort auch für die BBC und die Deutsche Welle.

1992 sagte Oleg Kalugin, ein ehemaliger Chef der Gegenspionage des sowjetischen Geheimdienstes KGB, aus, Schiwkow habe schließlich voller Wut auf den lästigen Kritiker die Beseitigung Markows angeordnet. Es hieß, Innenminister Dimiter Stojanow habe die Organisation des Attentates übernommen und den KGB um Hilfe gebeten. So soll der tödliche Regenschirm im KGB-Laboratorium "Die Kammer" entworfen und konstruiert worden sein. Das Attentat geschah dann genau an Schiwkows Geburtstag - eine kleine Aufmerksamkeit des DS.

Wie ein Enthüllungsbuch aufgrund bulgarischer Geheimdienstdokumente offenbarte, erhielt ein Agent mit dem Codenamen "Piccadilly" den Mordauftrag. Diesen Quellen nach war es Francesco Giullino, ein Däne italienischer Abstammung, von dem es hieß, er fühle keinerlei Furcht. Der Londoner "Daily Telegraph" schrieb, Unterlagen belegten, dass Giullino nach London geschickt wurde, um Markow zu "neutralisieren". Der heute 62-Jährige wurde 1993 von dänischen und britischen Geheimdienstagenten sechs Stunden lang in Kopenhagen verhört. Er gab zwar zu, für die DS gearbeitet zu haben, aber keinen Mord. Da gegen Giullino in Dänemark nichts vorlag, wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt.

Scotland Yard versucht nun, bis zum 11. September lückenlose Beweise gegen Agent "Piccadilly" zu sammeln und seiner habhaft zu werden. Gelingt dies nicht, tritt ein bulgarisches Gesetz in Kraft, das die Strafverfolgung nach 30 Jahren verbietet. Kenner behaupten, die Regierung in Sofia sei daran interessiert, endgültig den Deckel auf den heiklen Fall zu tun. Eine weitere Beweiserhebung und eine Sühne des Mordes wären dann kaum noch möglich.