Im 4. Jahrhundert wurde sie im Sinai verfaßt. Haben die Briten sie unrechtmäßig erworben?

London. Großbritannien muß möglicherweise die älteste Bibel der Welt an die Mönche eines ägyptischen Klosters im Sinaigebirge zurückgeben. Wie die Zeitung "The Times" am Dienstag berichtete, droht der British Library in London der Verlust des sogenannten Codex Sinaiticus, eine in griechischer Sprache verfaßte Bibelabschrift aus dem 4. Jahrhundert. Ihre ursprünglichen Besitzer, die Mönche des griechisch-orthodoxen St.-Katharinen-Klosters im Sinai, hatten stets erklärt, die kostbaren Ziegenhautseiten nicht freiwillig abgegeben zu haben.

Die British Library hatte noch vor kurzem eine Rückgabe des Codex ausgeschlossen. Doch nun wurde die Bibliothek von einer Beratungskommission der Regierung für Fälle von Plünderungen dazu aufgefordert, ein anderes umstrittenes Stück ihrer Sammlung zurückzuerstatten. Es handelt sich um ein Manuskript aus dem 12. Jahrhundert, das während des Zweiten Weltkriegs als Kriegsbeute aus einer Kathedrale bei Neapel geraubt worden sei. Die British Library fürchtet nun, daß die Kommission im Falle des Codex Sinaiticus zu einem ähnlichen Urteil kommen könnte.

Der Leipziger Theologieprofessor Konstantin von Tischendorf hatte die Bibelabschrift 1844 im St.-Katharinen-Kloster entdeckt. Er überredete die Mönche, ihm zunächst einen Teil der Seiten und später schließlich auch den Rest des Codex auszuhändigen. In einem Brief an das Kloster aus dem Jahre 1859 versprach Tischendorf, den Codex zurückzuerstatten. In einem aus dem Jahr 1869 stammenden Brief überließ jedoch der Abt des Klosters den Codex dem russischen Zaren Alexander II. im Austausch für eine Geldspende und Geschenke an das Kloster. 1933 schließlich erstand Großbritannien den größten Teil der Fragmente von der Sowjetunion, die sich seitdem in London befinden.

Die Mönche des Klosters seien der Meinung, Tischendorf habe sich die Fragmente damals unrechtmäßig angeeignet, betonte der derzeitige Erzbischof Damianos in London. Daß die Rechtmäßigkeit von Tischendorfs Handeln umstritten sei, bestätigte auch Ekkehard Henschke von der Leipziger Universitätsbibliothek, die 43 Seiten des Codex in ihrem Besitz hat. "Der Erwerb der Fragmente ist ähnlich kritisch wie der der Nofretete", sagte Henschke zu den Worten des Erzbischofs.