Deutschland macht für Ankara den Weg nach Europa frei. Damit erfüllt Schröder auch den USA einen Herzenswunsch.

Hamburg/Washington/Ankara. Die Türkei blickt heute und morgen nicht nur auf den Bosporus, sondern auch auf den Öresund. In der dänischen Hauptstadt Kopenhagen sind die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) versammelt, um die Erweiterung der EU um zehn Staaten zu beschließen. Die Türkei wird nicht dabei sein, aber das Land, seit Dezember 1999 im Kandidatenstatus für einen EU-Beitritt, will endlich ein Datum hören, wann die Verhandlungen beginnen können. Und Ankara hat einen Fürsprecher: die USA.

Pro Woche telefonieren die Außenminister der USA und Deutschlands, Colin Powell und Joschka Fischer, wenigstens zweimal miteinander. Wie es im State Department hieß, habe Powell das Thema Türkei in den letzten vier Wochen gegenüber Fischer jedes Mal angesprochen.

Nun sind die USA zwar nicht EU-Mitglied, aber seit dem 11. September 2001 und dem folgenden Anti-Terrorkampf liegen die Gründe auf der Hand, warum Amerika den strategisch so wichtigen NATO-Partner Türkei in der Europäischen Union eingebunden sehen will. "Die Türkei soll im Westen verankert werden, damit sie nicht in die islamische Welt absinkt", sagt Heinz Kramer, Türkei-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. "Die EU-Mitgliedschaft ist dagegen eine Rückversicherung." Eine politisch und wirtschaftlich stabile, nach Westen hin orientierte Türkei sei ein wichtiges Gegengewicht gegen den islamischen Fundamentalismus.

Außerdem geht es um Energiepolitik. Im August wurde in London jenes Konsortium gegründet, das die lange geplante Erdöl-Pipeline von Baku (Aserbaidschan) über Tiflis (Georgien) zum türkischen Mittelmeer-Hafen Ceyhan bauen will. Ankara und Washington sicherten sich damit die Rechte an den Erdöl- und Erdgasvorräten in der kaukasischen Senke und setzten sich gegen Iran und Russland durch. Eine Million Barrel pro Tag sollen einmal durch die Pipeline sprudeln. Schon jetzt fließt Gas aus Turkmenistan, Iran und Sibirien durch türkische Rohre, die Türkei wird für Europa die wichtigste Verteilerstelle der Gas- und Erdölvorräte aus dem Kaukasus.

In der Region, die für Europa der wichtigste Brennstoff-Lieferant werden kann, schlummern bis zu 50 Milliarden Tonnen Rohöl, mehr als in den USA oder in der Nordsee, wo Norwegen davon ausgeht, dass seine Erdölreserven noch für 50 Jahre reichen. Experten vermuten zudem, dass sich im Kaspischen Meer das größte Gasfeld der Welt befindet.

Und schließlich spielen militärisch-strategische Überlegungen eine große Rolle. Die Türkei ist der südliche Anker der NATO, ein Brückenstaat zum Nahen und Mittleren Osten. Das Land hat großen Einfluss in der Schwarzmeer-Region und grenzt die russischen Interessen am Kaukasus ein, da sich die dortigen Turk-Völker schon aus historischen Gründen der Türkei verbunden fühlen. Und für einen möglichen Militärschlag gegen den Irak brauchen die USA die Türkei als verlässlichen Partner für Luftwaffenbasen, Nachschubwege und als Aufmarschgebiet. Daher will Washington Ankara dabei helfen, seinen Herzenswunsch nach Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen zu erfüllen.

Und richten sollen es vor allem Bundeskanzler Gerhard Schröder. Das US-Außenministerium macht kein Geheimnis daraus, dass Präsident George Bush die Verbesserung der Beziehungen zwischen den USA und Deutschland auch von einer Fürsprache Berlins für die Türkei bei den EU-Kollegen abhängig macht. "Wenn Deutschland unsere Bemühungen unterstützt, wird das sicher helfen, die guten Beziehung wiederherzustellen", heißt es.

Auch Udo Steinbach, Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg, hat solche Töne vor kurzem in Washington vernommen. "Es wird offen darüber gesprochen, dass die Messlatte zur Wiederherstellung der deutsch-amerikanischen Beziehungen sehr hoch hängt." Wenn Berlin sich aber beim Kopenhagener Gipfel für die Türken einsetze, dann sei schon mal ein Hindernis aus dem Weg geräumt.

Jeffrey Gedmin, Direktor des Aspen-Instituts in Berlin, hält die Überlegungen aus Washington aber für einen Fehler. "Druck ist zwar eine Möglichekeit, die Deutschen wieder an Bord zu bekommen", äußerte der US-Politologe gegenüber dem Abendblatt. "Aber Erpressung ist nicht das probate Mittel. Die Europäer - und nur sie - müssen entscheiden, ob die Türkei EU-Mitglied wird. Das ist nicht Sache der USA."

Kanzler Schröder hat auch innenpolitische Gründe, sich für die Türkei einzusetzen. 70 Prozent der türkisch-stämmigen deutschen Wähler haben bei der Bundestagswahl am 22. September für Rot-Grün gestimmt. "Da ist eine kleine Bringschuld einzulösen", sagt Heinz Kramer. "Schröder kann die Türken in Deutschland jetzt nicht vor den Kopf stoßen und Ankaras EU-Wunsch ignorieren." In Deutschland leben 2,6 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln, 520 000 sind schon eingebürgert, und davon waren rund 460 000 bei der Bundestagswahl wahlberechtigt.

Ihr prominentester Vertreter ist der Hamburger Reiseunternehmer Vural Öger. Der 60-Jährige, der kurz vor der Bundestagswahl in die SPD eingetreten ist, diente Schröder als Geheimwaffe beim Treffen mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac. Es sollte um die Türkei-Frage gehen, und Schröder ließ Öger mehr als eine halbe Stunde lang auf den Gast aus Paris einreden. Ergebnis: "Chirac hat mir gesagt, dass die Türkei zur EU gehören muss, und Frankreich dieses unterstützt", so Öger.

Wie geht die Terminfrage aus? Schröder und Chirac haben vorgeschlagen, dass die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei am 1. Juli 2005 beginnen sollen, wenn die EU-Kommission bis Ende 2004 befindet, dass die Türkei den Weg der Reformen weitergegangen ist. Der dänische Premier Rasmussen möchte keinen Termin nennen, andere Staaten sind noch unentschlossen. Jedenfalls liegt die Zukunft der Türkei heute und morgen am Öresund.