Washington. Warum sich der Tod des 26-jährigen Dexter Reed in Chicago dennoch nicht für die ewige Debatte über exzessive Polizeigewalt eignet.

Es ist kein Zynismus. Weil tödliche Polizeigewalt in Amerika zum Alltäglichen gehört, durchbrechen nur noch extreme Auswüchse die Aufmerksamkeitsschwelle. So war es 2020, als in Minneapolis der Schwarze George Floyd („Ich kann nicht atmen“) durch den fast zehn Minuten lang unbarmherzig ausgeübten Druck eines Polizistenknies auf den Hals zu Tode kam. Die Tragödie löste die größten Bürgerrechtsproteste in den USA in den vergangenen Jahrzehnten aus. „Black Lives Matter“, das Leben von Afroamerikanern zählt, wurde zum geflügelten Wort.

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Und so war es im vergangenen Jahr, als in Memphis Tyre Nichols, ebenfalls Afroamerikaner, derart bestialisch von fünf Beamten malträtiert wurde, dass die Videoaufnahmen von dem Exzess noch heute Würgereiz auslösen. So ist zu erklären, dass es auch Dexter Reed unfreiwillig in die Schlagzeilen geschafft hat.

USA: 100 Schüsse aus der Dienstpistole nach einer verkorksten Fahrzeugkontrolle

Auf den 26-Jährigen, auch er ein Schwarzer, wurden in Chicago bei einer von Anfang bis Ende verkorksten Fahrzeugkontrolle in knapp 40 Sekunden rund 100 Schüsse aus den Dienstpistolen von vier Polizisten abgegeben. Wieder kochen Wut, Trauer und Abscheu hoch. Wieder ist von einem kriminellen Angriff unter dem Vorwand des Gesetzes die Rede. Und wieder stellt sich die Frage über die Reform(un)fähigkeit der amerikanischen Polizei.

Allein, bei Dexter Reed liegen die Dinge in einem entscheidenden Punkt nach allem, was man bis heute weiß, anders. Der wegen eines Waffendelikts vorbestrafte junge Mann beging den fatalsten Fehler, den man in Amerika im Kontakt mit der Staatsgewalt machen kann: Er schoss zuerst auf die Cops und verletzte mindestens einen Beamten. Der Kugelhagel, über dessen Unverhältnismäßigkeit man keine fünf Sekunden debattieren muss, war die Antwort. Eine strafrechtliche Ahndung des Falls ist aus heutiger Sicht eher unwahrscheinlich.

Dirk Hautkapp ist Korrespondent in den USA.
Dirk Hautkapp ist Korrespondent in den USA. © ZRB | ZRB

Trotzdem bleiben Fragen und ein ungutes Gefühl: Dexter Reed war in seinem erst wenige Tage zuvor gekauften weißen SUV hinter dem Lenkrad nicht angeschnallt. Rechtfertigt das wirklich, ihn durch eine taktische Sondereinheit in Zivil wie einen Schwerverbrecher anzuhalten? Noch dazu, wenn sich die Cops nicht früh als solche ausweisen?

Aus Fallstudien weiß man, dass vom lokalen Steueraufkommen lebende Polizisten in den USA Verkehrskontrollen oft als Vorwand nutzen, um Knöllchen einzutreiben. Ein kaputtes Rücklicht oder ein abgelaufenes Kennzeichen reichen aus, um in Teufels Küche zu kommen. Interaktionen gerade mit Schwarzen und Latinos, denen kein akut ahndungswürdiges Fehlverhalten vorzuwerfen ist, enden dabei nicht selten mit Verhaftungen oder tödlichen Eskalationen.

Schwarze und Latinos deutlich häufiger Opfer von Polizeigewalt

Das Info-Portal „Mapping Police Violence“ listet seit 2013 USA-weit Fälle tödlicher Polizeigewalt auf. Dabei fällt auf, dass die Zahl der Todesopfer seither kontinuierlich gestiegen ist – auf rund 1350 Fälle im Jahr 2023. Nur an 13 Tagen des vergangenen Jahres starb in den Vereinigten Staaten niemand durch die Waffe eines Polizisten. Dabei gelten die alten Faustregeln: Schwarze und andere Minderheiten sind überproportional häufiger betroffen als Weiße.

Trotz aller Gegenstrategien von Deeskalationstraining und Anti-Rassismus-Schulungen bleibt festzuhalten: Auch wenn die große Mehrheit der Polizisten ihre schwierige, oft lebensgefährliche Arbeit mit Respekt und Professionalität ausübt, ist eine routinemäßige Anwendung übermäßiger Gewalt gerade gegen ethnische Minderheit nicht zu leugnen.