Berlin. Wir brauchen weder Wehrpflicht noch Musterungspflicht. Der Verteidigungsminister liegt falsch – er muss schnell woanders anpacken.

Die Aussetzung der Wehrpflicht vor gut einem Jahrzehnt beruhte auf einem Irrtum. Weil die deutsche Politik künftig Kriege in Europa für ausgeschlossen hielt, verfolgte sie das Modell einer schlanken Berufsarmee, die in weit entfernten Krisengebieten intervenieren sollte. Jetzt ist wieder Krieg in Europa, die Bundeswehr ist mit einer verschärften Bedrohungslage konfrontiert: Dafür fehlt es ihr vor allem an Ausrüstung, auf mittlere Sicht aber auch an Personal. Also Kommando zurück und die Wehrpflicht wieder einführen? Drei Gründe vor allem sprechen dagegen.

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Erstens: Der Aufwand

Die Bundeswehr hat die Strukturen für den Wehrdienst abgebaut, sie müssten erst über Jahre mit hohen Milliardensummen neu geschaffen werden. Es fehlt an allem: Ausbilder, Material, Standorte, Kasernen. Der Umbau würde die Truppe gerade in diesen Krisenzeiten vorübergehend nicht stärken, sondern schwächen.

Pistorius informiert sich in Schweden über Wehrdienst-Modell

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    Zweitens: Der strategische Bedarf

    Auch für die düstersten Szenarien braucht Deutschland nicht Heerscharen an Wehrpflichtigen und Reservisten, die das Land an Oder und Neiße verteidigen. Sich auf eine russische Provokation etwa im Baltikum vorzubereiten, heißt: Im Verbund mit 31 Nato-Partnern müssen unsere gut ausgebildeten Soldaten sofort und in beeindruckender Zahl kampfbereit an Krisenplätze verlegt werden können – um einen Gegner abzuschrecken. Da hat die Bundeswehr großen Nachholbedarf. Jetzt, nicht irgendwann. Es ist kein Job für Wehrpflichtige.

    Christian Kerl ist Korrespondent in Brüssel.
    Christian Kerl ist Korrespondent in Brüssel. © FMG | FMG

    Drittens: Die Politik

    Für die Wehrpflicht müsste zwar erst mal nur ein Gesetz geändert werden, aber schon dafür ist eine politische Mehrheit nicht in Sicht. Schon gar keine Zwei-Drittel-Mehrheit zur Verfassungsänderung, die nötig wäre, wenn künftig nicht nur Männer, sondern auch Frauen Wehrdienst leisten sollten, wie es dem modernen Gesellschaftsbild auch der Bundeswehr entspräche. Eine Grundgesetzänderung wäre ebenso für die allgemeine Dienstpflicht über das Militär hinaus erforderlich. Die ist sicher eine interessante Idee, oft diskutiert, nie umgesetzt, weil hoch umstritten – dass sie in Deutschland in absehbarer Zeit eingeführt werden kann, ist so gut wie ausgeschlossen.

    Das schwedische Modell einer „Wehrpflicht light“

    Und das schwedische Modell einer „Wehrpflicht light“? Ihr Vorteil in der Theorie: Der Gesellschaft wird der Ernst der Lage vor Augen geführt, ohne dass es wehtut. Der größere Teil eines Jahrgangs wird zur Musterung einbestellt, nur einem kleinen Teil wird ein Angebot gemacht. Im Idealfall melden sich die Besten freiwillig. Und wenn nicht? Da beginnt das Missverständnis: Das Schweden-Modell ist keine bloße Einladung zur Musterung, um mal Kontakt zur Truppe zu bekommen. In Schweden ist das Interesse überschaubar, daher werden Männer und Frauen je nach Bedarf auch zwangseingezogen – aber nur ein kleiner Prozentsatz eines Jahrgangs. Das schafft Ungerechtigkeiten, mit denen Schweden kein Problem hat.

    Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (links) und sein schwedischer Amtskollege Pal Jonson bei ihrem Treffen in der schwedischen Hauptstadt Stockholm.
    Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (links) und sein schwedischer Amtskollege Pal Jonson bei ihrem Treffen in der schwedischen Hauptstadt Stockholm. © Kay Nietfeld/dpa | Unbekannt

    Deutschland schon. Unsere Rechtsprechung besteht auf Wehrgerechtigkeit – das Schweden-Modell würde sehr wahrscheinlich vor dem Verfassungsgericht landen. Damit ist der Bundeswehr nicht geholfen. Der Verteidigungsminister erwägt daher nur einen ganz sanften Einstieg in dieses Verfahren, der jeden Zwang ausschließt. Viel Aufwand, wenig Nutzen: Die Personalprobleme würden nicht im Ansatz gelöst, während die Anstrengung für Politik und Bundeswehr immens wäre.

    Diskutieren kann man immer, aber Zeitenwende ist jetzt

    Boris Pistorius sollte sich auf das Naheliegende konzentrieren. Um junge Leute anzusprechen, muss man sie nicht mit großem politischen und organisatorischen Aufwand zur Musterung einbestellen – die Bundeswehr kann genauso gut in den Schulen für sich werben und auch sonst in der Öffentlichkeit präsenter sein. Der Dienst in der Bundeswehr muss für Neueinsteiger schnell attraktiver werden, da reichen Youtube-Werbefilme nicht. Der Bund hat noch viele Stellschrauben: Warum nicht, nur ein kleines Beispiel für neue Wege, Soldaten und ihre Familien besser mit günstigem Wohnraum versorgen? Warum nicht eine Kampagne zur Personaloffensive mit dem Kanzler und anderen Spitzenpolitikern? Gute Ausrüstung, ordentliche Kasernen, zufriedene Soldaten sind die beste Nachwuchswerbung. Da ist viel zu tun. Schon die nächsten Jahre sind entscheidend. Diskutieren kann man immer, aber Zeitenwende ist jetzt.