Berlin. Tausende Menschen erweisen dem verstorbenen Kreml-Kritiker die letzte Ehre – das ist ein ermutigendes Signal. Aber auch mehr?

Schon am frühen Morgen bezieht die russische Staatsgewalt Stellung: Dutzende Einsatzfahrzeuge und Uniformierte säumen den Weg zur Kirche zu Ehren der Gottesmutterikone „Lindere meine Trauer“. Überall hängen Überwachungskameras, im Eingangsbereich des Gotteshauses stehen Absperrgitter. Die russische Regierung fürchtet die Trauer um einen Mann, dessen Namen Präsident Wladimir Putin öffentlich nicht ausspricht: Alexej Nawalny.

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Nawalnys Mutter, Ljudmila Nawalnaja, sollte eine geheime Bestattung ihres Sohnes akzeptieren. Sie hat dem Druck nicht nachgegeben. Nawalny war ein tiefgläubiger Mensch, der nicht irgendwo verscharrt werden sollte. Die Beerdigung von Putins härtestem Gegner wurde zu einer letzten Machtdemonstration, zu einer letzten Botschaft dieses unbeugsamen Kämpfers: Ihr könnt uns verprügeln, foltern, wegsperren, töten – aber täuscht euch nicht: Der Wunsch nach einem angstfreien Leben, nach Frieden, Freiheit, Mitbestimmung lässt sich auch in Russland nicht so einfach zu Grabe tragen.

Man brauchte sehr viel Mut, um zur Kirche zu gehen und den Weg zum Friedhof zu laufen. Er liegt etwa eine halbe Stunde Fußweg entfernt. Und es ist erstaunlich, wie viele ihn aufbringen. Jeder, der Nawalny die letzte Ehre erweist, geht davon aus, dass die Sicherheitsbehörden ihn erfasst und gespeichert haben. Und sie kommen trotzdem – zu Tausenden. Was für ein ermutigendes Signal!

Putins Welt ist anders, sie ist grausam, skrupellos

Menschen, die nie einen Krieg erlebt haben, die in einem Rechtsstaat aufgewachsen sind, können schwer ermessen, was es bedeutet, in einem Land zu leben, in dem sich der Machthaber als Herr über Leben und Tod aufspielt. Aber wir sollten genau hinsehen und unsere Freiheit und die Demokratie nicht für selbstverständlich halten. Putins Welt ist anders, sie ist grausam, skrupellos. In Moskau ist auch die Sonderpolizei im Einsatz, es soll mit aller Macht verhindert werden, dass sich eine neue Führungsfigur entwickelt.

Gudrun Büscher ist Politik-Korrespondentin.
Gudrun Büscher ist Politik-Korrespondentin. © Berlin | Reto Klar

Offenbar wurde deshalb auch in aller Frühe Boris Nadeschdin festgenommen. Er war bis vor wenigen Wochen der einzige mögliche oppositionelle Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen. Seine Kandidatur wurde aber nicht zugelassen. Nadeschdin wollte zur Trauerfeier kommen, um dort, so schrieb er, alte und neue Kameraden zu treffen „in unserem Kampf für ein friedliches und freies Russland“. Das reicht schon, um abgeholt zu werden.

Russland: Eine neue Oppositionsbewegung ist nicht zu erwarten

Die komplette Opposition ist entweder im Exil, in Haft oder tot. Putin duldet keine Gegner, keinen Widerspruch. Er will in zwei Wochen seine Wiederwahl für weitere sechs Jahre inszenieren und räumt alles, was stören könnte, aus dem Weg. Deshalb ist auch nicht zu erwarten, dass aus den vielen mutigen Trauernden jetzt eine neue Oppositionsbewegung erwächst. Aber Nawalnys Beisetzung ist eine Form der Selbstvergewisserung der Putin-Gegner: Ich stehe nicht allein. Es gibt viele, die denken und fühlen wie ich: „Du hattest keine Angst. Und wir haben keine Angst“, rufen einige.

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Bisher hat Nawalny sie verbunden, wenn auch nicht geeint. Seine Frau Julija Nawalnaja will, so hat sie es angekündigt, sein politisches Erbe antreten. Doch ob sie aus dem Exil eine solche Strahlkraft entfalten kann wie ihr furchtloser Mann, wird sich erst noch zeigen müssen. Leicht ist es nicht, denn in Russland gibt es kaum Mitstreiter. Die meisten Russinnen und Russen kümmern sich nicht um Politik, sie versuchen, den Alltag zu meistern – was oft schwer genug ist. Vor ihnen, und sie sind die schweigende Mehrheit, wird sich Putin in absehbarer Zeit nicht fürchten müssen.