Berlin. Lust auf Empörung? Haben wir alle. Warum wir uns aber gerade jetzt zusammenreißen müssen – und Deutschland gar nicht so schlecht ist.

Mal ehrlich, das Gefühl kennt doch jeder: Man möchte sich in den dicken Trecker setzen, vors Brandenburger Tor brettern und mal richtig wütend sein. Auf dieses Land, das so gute Voraussetzungen hat – und in dem trotzdem so vieles schiefläuft. Und auf die Politik, die daran so wenig ändert.

Wer sich empören will, braucht nicht lange nachzudenken. Die wenigsten in Deutschland haben Probleme mit Agrardiesel. Puls kriegen die Leute wegen anderer Sachen: Die Mieten steigen, die Lehrer fehlen, die Pflege wird immer teurer. Die Verwaltung ist lahm, die Bürokratie erstickt jede Initiative, und Fördergelder bekommen immer nur die anderen. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Also Trecker mieten und los? Stopp. Bitte mal alle kurz durchatmen.

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Ja, in Deutschland läuft vieles schief. Aber dieses Land gehört deswegen nicht gleich auf den Schrotthaufen. Genau in diese Richtung bewegt sich aber aktuell die Stimmung: Es gibt eine hochriskante Lust aufs Kaputtreden – die, wenn man sie nicht in den Griff bekommt, schnell zu einer Lust am Untergang eskalieren kann. Mit anderen Worten: Die Gefahr ist groß, dass wir uns in eine Depression hineinreden. Nach dem Motto: Ist doch eh alles Mist. Statt anzuerkennen, wo Dinge gut laufen, gelingen, Erfolg haben, dreschen viele gerade auf die Mängel ein, als gebe es kein Morgen.

Demokratie schlecht reden? Die AfD reibt sich die Hände

Doch es gibt dieses Morgen. Und die AfD reibt sich bereits die Hände aus lauter Vorfreude. Die Demokratie schlecht reden? Das mühsame Aushandeln in Zeiten komplexer Krisen als politische Unfähigkeit diskreditieren? Das übernehmen die Demokraten zu Beginn des Wahljahres 2024 praktischerweise selbst: Die Union tut im Moment so, als sei die Ampel-Regierung der Sargnagel des Landes. Und die Ampel-Regierung ist gleichzeitig so arrogant, die Union nicht stärker einzubinden.

Julia Emmrich ist Politik-Korrespondentin in der FUNKE Zentralredaktion.
Julia Emmrich ist Politik-Korrespondentin in der FUNKE Zentralredaktion. © Anja Bleyl | Anja Bleyl

Anders gesagt: Olaf Scholz darf das Angebot der Union, in der Krise stärker zusammenzustehen, nicht so kaltschnäuzig zurückweisen. Friedrich Merz und Markus Söder müssen ihrerseits den Regler runterdrehen. Soll keiner glauben, dass die große Lust am Ampel-Bashing sich nicht zu einem irreparablen Eliten-Bashing auswächst, das einen möglichen nächsten CDU-Kanzler genauso in die Enge treiben wird.

Sollten uns hüten, das Land schlechter zu reden als es ist

Reißt euch zusammen, wir haben was zu verlieren! Das sollte man sich vorne auf den Trecker schreiben und damit durchs Land fahren. Noch stehen 80 Prozent der Deutschen hinter der Demokratie. Noch wollen bundesweit 80 Prozent NICHT die AfD wählen. Noch gibt es ein großes Potential an Nichtwählern, Jungwählern und Erstwählern, die überzeugt werden können, dass es bei den Wahlen in diesem Jahr darum geht, mehr zu verteidigen als Subventionen. In Sachsen wollen aktuell 35 Prozent die AfD wählen – aber 65 Prozent wollen es eben auch nicht.

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Wir haben etwas zu verlieren, es steht etwas auf dem Spiel. Das war das mulmige Grundgefühl, das bei den Parlamentswahlen im Herbst in Polen dazu geführt hat, dass mehr als 70 Prozent der Wählerinnen und Wähler, so viele wie seit 1989 nicht mehr, zur Wahl gingen. Besonders stark war die Beteiligung bei den unter 30-Jährigen. Wer die jungen Wähler in Deutschland nicht an die Demokratiefeinde verlieren will, sollte sich hüten, das Land schlechter zu reden als es ist. Niemand, der jung ist, hat Lust darauf, für eine verkorkste, für eine verlorene Sache einzutreten.