Berlin. Seit dem Angriff auf Israel kursieren antisemitische Vergleiche wie Holocaust oder Kolonialismus. Ein Experte entlarvt ihre Absurdität.

Greta Thunberg spricht von Apartheid, Palästinenserpräsident Mahmud Abbas von Holocaust, und die linke Szene möchte Palästina am liebsten „befreien“: Um den Nahostkonflikt ranken sich zahlreiche Mythen, die meist den Staat Israel als Verursacher darstellen. Auf den ersten Blick klingen Vorwürfe wie Kolonialismus sogar plausibel. Dahinter aber steckt oft ein tief verwurzelter Antisemitismus. Stephan Grigat vom Zentrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien in Aachen entlarvt gängige Stereotype.

Herr Grigat, kann es „Israelkritik“ geben?

Stephan Grigat: Hier muss der Begriff selbst problematisiert werden. Es ist es völlig normal, dass Menschen die Politik kritisieren, die etwa in Stockholm, Tokio oder Madrid gemacht wird. Aber wir kennen keine Wörter wie Schweden-, Japan- oder Spanienkritik. Das ist bei Israel anders – „israelkritisch“ hat es sogar in den Duden geschafft. „Israelkritik“ ist vom Wort her eine Kritik am Staat Israel als solchem und keine Kritik an bestimmten politischen oder militärischen Entscheidungen. An letzteren gibt es zahlreiche Kritik, insbesondere in der israelischen Gesellschaft selbst.

Ist es angebracht, im Nahostkontext von Juden, anstatt von Israelis zu sprechen?

Man muss von beidem sprechen. Die israelische Bevölkerung besteht im Kernland aus etwa 80 Prozent Juden. Das spielt eine entscheidende Rolle, da Israel kein gewöhnlicher Staat ist, sondern als unmittelbare Reaktion auf eine Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichte als jüdischer Staat gegründet wurde, der sich selber auch so begreift. Schon zur Abbildung der Realitäten ist es zwingend notwendig, von Juden zu sprechen. Die Hemmung vieler Deutscher, das Wort auszusprechen, kann ich nicht nachvollziehen. Man übernimmt damit die negative Konnotation, die der Begriff durch den Nationalsozialismus bekommen sollte.

Sind antizionistische Einstellungen im Gegensatz zu antisemitischen gerechtfertigt?

In den allermeisten Fällen ist die Aussage, man sei ja „nur antizionistisch und nicht antisemitisch“, eine Schutzbehauptung und eine geopolitische Reproduktion des Antisemitismus. Der Antizionismus – also die Ablehnung der jüdischen Nationalstaatsidee – projiziert dann alles Negative nicht auf Juden, sondern auf den jüdischen Staat Israel. Natürlich gibt es auch einige Ausprägungen, die nichts mit Antisemitismus zu tun haben, vor allem bei ultraorthodoxen Juden oder radikalen Linken vor dem Nationalsozialismus. Wenn aber heute jemand den Zionismus ablehnt, hätte ich zunächst eine ganze Reihe von Nachfragen. Zum Beispiel, warum es gerade Juden nicht erlaubt sein sollte, einen eigenen Staat zu gründen. Viele Ausprägungen des heutigen Antizionismus sind auch eindeutig antisemitisch, etwa das verschwörungsmythische Geraune des iranischen Regimes.

Stephan Grigat ist Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katholischen Hochschule NRW und Leiter des Centrums für Antisemitismus- und Rassismusstudien in Aachen.
Stephan Grigat ist Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katholischen Hochschule NRW und Leiter des Centrums für Antisemitismus- und Rassismusstudien in Aachen. © Jüdisches Museum Wien | -

Kann Israel wegen der Siedlungspolitik Kolonialismus vorgeworfen werden?

Der Vorwurf des Kolonialismus ist absurd, wenn man sich die Geschichte der israelischen Staatsgründung anschaut: Sie war auch ein antikolonialer Akt, da die Zionisten damit die Briten aus dem Land vertrieben haben. Infolgedessen hatte Israel sehr enge Beziehungen zu einigen der jungen entkolonialisierten Staaten in Afrika. Nichtsdestotrotz finden sich in frühen zionistischen Schriften auch Formulierungen wie „Wir müssen das Land kolonisieren“. Das ist aber ein ganz anderer Kontext als beim europäischen Kolonialismus. Die Diskussion über die heutige Siedlerbewegung würde ich davon loslösen. Hier geht es nicht um Kolonialismus, sondern um die Konkurrenz zweier Nationalstaatsbewegungen.

Palästinenserpräsident Abbas hat Israel mehrere Holocausts vorgeworfen. Auch der Vorwurf des Genozids kursiert. Ist das gerechtfertigt, da israelische Bomben Menschen töten?

Die Aussage von Abbas ist ein eindeutiges Beispiel für Antisemitismus. Es ist ein absurder Vorwurf, der in einer antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr die Juden zu den Nazis von heute erklärt. In Deutschland oder Österreich sind solche irren Gleichsetzungen eine Schuldabwehr, während in der Region des Nahen Ostens damit der antisemitische Terror legitimiert werden soll. Auch der Genozid-Vorwurf ist in der aktuellen Situation eine Schuldumkehr: Israel begeht keinen Genozid, sondern führt einen Antiterror-Krieg gegen antisemitische Mörderbanden. Beim Massaker der Hamas hingegen müsste von genozidaler Gewalt gesprochen werden.

Apropos „Schuld“: Was steckt hinter der Aussage „free palestine from german guilt“?

In postnationalsozialistischen Gesellschaften wie Deutschland und Österreich gab es schon immer ein starkes Bedürfnis nach der Abwehr der ungeheuren Schuld, die die deutsche Bevölkerung auf sich geladen hat. Ein Mittel dieser Schuldabwehr ist, die ehemaligen Opfer für genauso schlimm zu erklären wie die eigenen Großeltern. Bisher kam diese Schuldabwehr insbesondere von der politischen Rechten, etwa wenn die AfD gegen einen angeblichen „Schuldkult“ wettert. Das wird in dem genannten Slogan nun von links aufgegriffen – letztlich, um Israel ganz ungehemmt attackieren zu können.

Wenn Greta Thunberg Israel Apartheid vorwirft, passt das in das gleiche Muster?

Auch das ist ein absurder Vorwurf: Apartheid bezieht sich auf das rassistische Apartheidsregime Südafrikas. Wenn man die Realität dort mit der Realität der israelischen Gesellschaft gleichsetzt, verharmlost man den systematischen Rassismus in Südafrika. In Israel ist die Situation eine komplett andere: Im Kernland gibt es beispielsweise arabische Richter und drei bis vier arabische Parteien im Parlament. Auch in den besetzten bzw. umstrittenen Gebieten des Westjordanlands halte ich den Vorwurf der Apartheid für falsch: In Südafrika war die Unterdrückung durch eine rassistische Ideologie begründet. Die Bewegungseinschränkungen in den besetzten Gebieten und andere Sicherheitsmaßnahmen resultieren hingegen nicht aus einem Rassismus gegenüber Arabern, sondern sind Ergebnis des historischen Konflikts und reagieren auf Terroraktivitäten auf palästinensischer Seite.

Klima-Ikone Greta Thunberg solidarisierte sich jüngst mit Palästina und sprach unter anderem von Apartheid.
Klima-Ikone Greta Thunberg solidarisierte sich jüngst mit Palästina und sprach unter anderem von Apartheid. © Instagram | @GretaThunberg

Was steckt hinter dem Stereotyp, dass Juden oft Kapital- und Finanzgeschäften nachgehen?

Ein wesentliches Element des modernen Antisemitismus ist, dass man alles, was man an der modernen Gesellschaft und dem Kapitalismus als negativ, bedrohlich, unangenehm und zersetzend empfindet, auf Juden projiziert. Dieser Klassiker des Antisemitismus unterstellt Juden spezifische ökonomische Fähigkeiten und eine besondere intellektuelle Überlegenheit. Die Nationalsozialisten sprachen vom sogenannten „raffenden“ Kapital, was jüdisch, und „schaffendem“ Kapital, was gut, arisch und deutsch sei. Diese Denkweise findet sich allerdings auch in anderen politischen Spektren, wenn auch nicht immer mit der eindeutig antisemitischen Zuspitzung wie im Nationalsozialismus.

Kann man – wie es Barack Obama jüngst tat – von Besatzung sprechen?

Der Begriff ist für die Situation in der Westbank durchaus gerechtfertigt, allerdings kommt es auch hier auf den Kontext an. Nach dem Sechstagekrieg 1967 – der wohlgemerkt Israel von den arabischen Staaten aufgedrängt wurde – hat Israel über den Golan, den Gazastreifen, das Westjordanland und den Sinai geherrscht. Heute ist der Golan von Israel annektiert, und ob man das Westjordanland nach internationalem Recht als besetztes oder aber als umstrittenes Gebiet bezeichnen sollte, ist eine eigene Diskussion. Die Realität der in der Westbank lebenden Palästinenser ist jedenfalls die einer Besatzungssituation. Das Problem der Äußerung von Obama ist aber, dass er nicht klarmacht, wie es zu dieser Situation gekommen ist und warum es heute zum Teil massive Einschränkungen für die palästinensische Bevölkerung in der Westbank gibt. Die Checkpoints existieren nicht aus israelischer Böswilligkeit, sondern in erster Linie als Reaktion auf palästinensischen Terror.

Wenn von einer Besatzung auszugehen ist, wie ist dann „free Palestine“ zu werten?

Die Frage ist: Wovon soll Palästina befreit werden und was ist dieses Palästina eigentlich? „Free Palestine from Hamas“ wäre ja ein wunderbarer Slogan. Bei „free Palestine“ müsste man immer nachfragen, was gemeint ist: Zielt der Slogan auf einen palästinensischen Staat an der Seite Israels ab? Oder geht es um einen palästinensischen Staat an der Stelle Israels? In der Regel zielt diese Parole auf das gesamte Territorium von Israel. Die Gründung des Staates Israel von 1948 soll revidiert werden, was schlicht einem Vernichtungsaufruf gleichkommt.

Der Artikel ist Teil der Serie „Das deutsche Gewissen auf dem Prüfstand: Wie antisemitisch ist unsere Gesellschaft?“
Der Artikel ist Teil der Serie „Das deutsche Gewissen auf dem Prüfstand: Wie antisemitisch ist unsere Gesellschaft?“ © Funke | Sophie Hameister

Das wäre gleichzusetzen mit dem Slogan „From the river to the sea“?

Genau, hier muss nicht mehr nachgefragt werden: Das ist ein klarer Vernichtungsaufruf. Der Slogan knüpft an die gesamtarabische Ablehnung des UN-Teilungsplans von 1947 an.

Es fliegen Bomben in beide Richtungen, Menschen sterben. Hinter dem Stereotyp „Kindermörder Israel“ steckt aber mehr?

Zum einen erinnert dieser Vorwurf an ein altes antisemitisches Motiv: die in christlichen Gesellschaften entstandene Ritualmordlegende. Da geht es um die irre Behauptung, Juden würden christliche Kinder entführen, sie schlachten und ihr Blut verwenden. Im 19. und 20. Jahrhundert fand das auch in die arabisch-islamischen Gesellschaften Eingang. Zum anderen tötet Israel im Rahmen seiner Antiterrormaßnahmen zweifellos auch Kinder, aber das ist, anders als bei der Hamas, nicht die Intention. Der Vorwurf „Kindermörder“ impliziert aber gerade Vorsatz, und das entbehrt jeglicher Grundlage.

Der Philosoph Slavoj Žižek hatte auf der Frankfurter Buchmesse für Furore gesorgt, da er auch der palästinensischen Seite zuhören möchte. Warum die Kritik?

Natürlich muss man palästinensische Stimmen hören, aber man muss sie dann auch beurteilen und darf sie nicht idealisieren. Die Stimmen der Palästinenser sind ausgesprochen vielschichtig. Sie ernst zu nehmen, bedeutet dann beispielsweise auch, es nicht als Protest gegen soziale Ungerechtigkeit und die Besatzung zu beschönigen, wenn palästinensische Stimmen zum Judenmord aufrufen. Sondern als antisemitischen Mordaufruf ernst zu nehmen. Außerdem würde ich mir wünschen, dass gerade jene palästinensischen Stimmen gehört werden, die sowohl von der Hamas als auch von der Fatah nichts mehr wissen wollen. Oder auch jene von arabischen Israelis, die freiwillig in der israelischen Armee kämpfen.