In wenigen Wochen plant China einen historischen Machtwechsel. Der neue Mann: Xi Jinping. Der künftige Staats- und Parteichef ist aber auf mysteriöse Weise völlig abgetaucht. Nach den Machtkämpfen und Skandalen in der Partei kocht die Gerüchteküche über.

Tianjin. Der Mann, der schon bald die 1,3 Milliarden Chinesen anführen soll, ist verschwunden. Seit zehn Tagen ist Xi Jinping nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen worden. Kanzlerin Angela Merkel war am 31. August die letzte ausländische Besucherin, die den chinesischen „Thronfolger“ noch in Peking gesehen hat. Seither hat der 59 Jahre alte Vizepräsident jeden anderen ausländischen Besucher versetzt. Kurzfristig wurde auch ein Treffen mit US-Außenministerin Hillary Clinton abgesagt. „Wo ist Xi Jinping“, ist auch beim Weltwirtschaftsforum in Tianjin vielleicht die am häufigsten geäußerte Frage, obwohl der Vizepräsident nicht einmal bei dem Spitzentreffen der Wirtschaftsführer der Welt erscheinen wollte.

Aber alle wundern sich, was mit ihm ist. Selbst während der Rede von Ministerpräsident Wen Jiabao im Plenarsaal des Konferenzzentrums lesen Wirtschaftsführer auf ihren Tablet-Computer die Meldungen in westlichen Medien über das rätselhafte Verschwinden des Kronprinzen. In den Fluren und Sitzecken des Meijiang Konferenzzentrums der ostchinesischen Metropole wird spekuliert. „Nein, ich weiß nichts“, sagt einer. „Ist bestimmt nichts Ernstes“, glaubt ein ehemaliger hoher Mitarbeiter des Außenministeriums in Peking, hat aber trotz seiner guten Beziehungen auch keine Ahnung.

Die Verwirrung ist perfekt, weil die Staatsmedien eine Rede von Xi Jinping vom 1. September in der Parteischule veröffentlichten. Es war sein letzter öffentlicher Auftritt. Das kommunistische Parteiorgan „Volkszeitung“ druckte seine Äußerungen am Dienstag, ließ aber einfach das Datum weg – wohl um den Eindruck zu erwecken, als gehe der Vizepräsident normal seinen alltäglichen Pflichten nach. Einige Chinesen fielen prompt darauf herein, aber im Internet gibt es wilde Spekulationen, die von der Zensur unterbunden werden.

Eines der häufigsten Gerüchte lautet, der künftige chinesische Führer habe eine Rückenverletzung erlitten – beim Schwimmen oder beim Fußballspielen. Oder vielleicht ein Autounfall? Keiner sagt etwas offiziell. Der Sprecher des Außenministeriums, Hong Lei, sagte auf Fragen ausländischer Journalisten: „Wir haben alles gesagt.“ Vielleicht bezog sich der Sprecher auf die Bemerkung von Außenminister Yang Jiechi, Reporter sollten „unnötige Spekulationen vermeiden“.

Die Geheimniskrämerei facht die Spekulationen aber nur an. In den twitter-ähnlichen chinesischen Kurzmitteilungsdiensten sperrte die Zensur Suchwörter wie „Xi Jinping“ oder „Rückenverletzung“. Aber nicht nur der Vizepräsident wird vermisst, auch fehlt längst ein genauer Termin für den nur alle fünf Jahre stattfindenden Parteitag im Oktober. Dort soll der Generationswechsel in der Führung vollzogen und Xi Jinping zum neuen Parteichef gemacht werden. Beim vorangegangenen Parteitag im Jahr 2007 war das Datum schon Ende August verkündet worden.

Die Kommunistische Partei steckt aber auch noch mitten in dem größten Skandal ihrer jüngeren Geschichte. Die Affäre um den im März entmachteten Spitzenpolitiker Bo Xilai und seine Ende August wegen Mordes verurteilte Frau Gu Kailai hat das Land erschüttert. An der Oberfläche schien zuletzt aber eigentlich alles auf einen reibungslosen Machtwechsel zuzulaufen – den ersten seit zehn Jahren. Auffällig ist aber, dass ausgerechnet He Guoqiang, der Chef der mächtigen Disziplinarkommission der Partei, ebenfalls seit Ende August keine öffentlichen Auftritte mehr absolviert hat.

Das Mitglied im Ständigen Ausschuss des Politbüros, dem mächtigsten Führungsorgan, ist nicht irgendwer: He Guoqiang hat wegen „ernster Verletzung der Disziplin“ gegen den gestürzten Politstar Bo Xilai ermittelt. Da der frühere Parteichef der Metropole Chongqing mit seiner „linken“ Politik viele Anhänger hat und auch im Militär bestens verdrahtet ist, ist nicht viel Fantasie erforderlich, um sich die Verschwörungstheorien vorzustellen, die jetzt durch die undurchsichtige Informationspolitik ins Kraut schießen.

(dpa)