Hamburg/Berlin. Der Fall des Hamburger Messer-Angreifers hat eine bundesweite Debatte ausgelöst. Der Staat tut sich schwer bei Rückführungen

Der Attentäter von Hamburg sollte abgeschoben werden und war nur deswegen noch in der Stadt, weil seine Ausweispapiere fehlten. „Das zeigt umso dringlicher, dass diese rechtlichen und praktischen Hindernisse bei der Abschiebung beiseite geräumt werden müssen“, beklagte Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) noch am Freitagabend – wenige Stunden nach der Tat. Nur einen halben Tag später vermittelten seine Behörden ein differenzierteres Bild: Der Flüchtling wollte ausreisen, legte zum Beweis für seine palästinensische Herkunft eine Geburtsurkunde vor, beantwortete alle Fragen und beantragte bei der diplomatischen Vertretung in Berlin Passersatzpapiere. Auch die palästinensischen Behörden hatten mitgewirkt, zuletzt fehlte nur noch ein Dokument.

Weniger Abschiebungen, aber mehr Ausreisepflichtige

Abschiebung ist Ländersache, in der Praxis ein gesamtstaatlicher Kraftakt. Die Ministerpräsidenten klagen regelmäßig, weil die Verfahren aufwendig, teuer und zeitraubend sind. Scholz ist keine Ausnahme. Aber der Attentäter ist insofern ein schlechtes Beispiel, als unklar ist, welche Gesetzesänderung seine Abschiebung beschleunigt hätte. Zum einen war seine Identität geklärt. Zum anderen hat der Herkunftsstaat die Beschaffung eines Passes nicht mutwillig verzögert. Dass dafür häufig Monate vergehen, liegt daran, dass die Flüchtlinge aus Krisenregionen kommen, wo der Staatsapparat kaum funktioniert.

Der Hamburger Fall wirft allerdings eine andere Frage auf: Was geht in einem Menschen vor, einem jüngeren zumal, der mit Hoffnungen eingereist ist und nun erkennen muss – je näher die Abschiebung rückt –, dass er keine Perspektive hat? Wenn er sich wehrt und kriminell zu werden droht, kann man ihn in Abschiebehaft nehmen. Aber was macht man mit einem Menschen, der in seiner Verzweiflung „nur“ depressiv wird? Im konkreten Fall hatten ein Freund und der Leiter der Flüchtlingsunterkunft beim späteren Attentäter „Veränderungen“ festgestellt: Eine plötzliche, obsessive Hinwendung zum Islam. Weil der Verdacht bestand, dass er sich islamistisch radikalisiert hatte, haben die Behörden den Mann aufgesucht und mit ihm geredet. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass er kein Gefährder war, sondern psychisch anfällig. Für einen Gefährder hätten sich Polizei und Verfassungsschutz verantwortlich gefühlt – für einen psychisch labilen Menschen nicht. Der Befund war nicht falsch, die Folgen allerdings verheerend. Noch am Morgen hatte sich der 26-Jährige, der in den Vereinigten Arabischen Emiraten geboren, aber palästinensischer Abstammung ist, nach dem Stand der Dinge erkundigt. Mal wollte er ausreisen, mal nicht. Der Mann war hin- und hergerissen.

Die Frage der psychosozialen Betreuung wird umso wichtiger, weil bundesweit die Zahl der Ausreisepflichtigen steigt und sich ihre Fälle tendenziell in die Länge ziehen werden – und damit die Zeiten der Ungewissheiten für die Betroffenen. Momentan sind 226.457 Menschen ausreisepflichtig. Die Unternehmensberater von McKinsey haben in einer Studie für das Bundesinnenministerium für 2017 gar 485.000 Ausreisepflichtige prognostiziert. Der Trend ist plausibel, weil das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antragsstau der letzten Jahre abarbeitet. Zuletzt war die Zahl der Abschiebungen im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gesunken. In den ersten sechs Monaten wurden 12.545 Ausreisepflichtige in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt, 2016 wurden im selben Zeitraum 13.743 Menschen abgeschoben.

Viele Betroffene kooperieren nicht mit den Ausländerbehörden, klagen, tauchen unter, lassen sich krankschreiben. Es gibt Herkunftsländer, in die es objektiv schwerer geworden ist, Menschen abzuschieben, etwa Afghanistan wegen der Sicherheitslage. Und es gibt Staaten, die sperrig sind, etwa Tunesien, Marokko, Algerien. Mal werden Passersatzpapiere nicht oder spät bereitgestellt, mal Sammelabschiebungen abgelehnt, sodass Migranten einzeln oder in Kleinstgruppen mit Linienmaschinen zurückgeflogen werden müssen.

Der Bund hat viele Register gezogen: Die Koordinierung mit den Bundesländern verbessert, Druck auf Herkunftsstaaten gemacht, Prämien für freiwillige Rückkehrer angeboten, in Potsdam eine Spezialbehörde aufgebaut, die sich um die schwierigen Fälle bei der Beschaffung von Ersatzpapieren kümmern soll. Vor allem hat der Bund Gesetze und Vollzug verschärft. Erst am Sonnabend war das Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht in Kraft getreten. Danach können Ausreisepflichtige, von denen eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben oder die innere Sicherheit ausgeht, einfacher in Abschiebehaft genommen oder überwacht werden. Für den Hamburger Attentäter kam die Verschärfung erstens zu spät und zweitens war er eben nicht als Gefährder eingestuft worden.

Ruf nach Strafmaßnahmen gegen unkooperative Staaten

Dessen ungeachtet fordern Politiker Konsequenzen. „Der verfahrenstechnische Teufelskreis bei Abschiebungen muss beendet werden“, sagte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer der „Bild am Sonntag“. Wenn eine Radikalisierung bekannt sei, „müssten solche Personen aus dem Verkehr gezogen und festgesetzt werden, bevor sie Taten begehen.“ CDU-Innenpolitiker Armin Schuster verlangte mehr Kompetenzen des Bundes bei der Rückführung. Dies sollten die Bundesländer endlich akzeptieren, sagte er der „Welt am Sonntag“. Auswärtiges Amt, Bundespolizei und Bundesinnenministerium hätten eine „andere diplomatische Power als die Ausländerbehörde Buxtehude oder Kleve“. Zudem rief er die SPD auf, Transitzentren zur Identitätsklärung in Grenznähe zuzustimmen. „Wer täuscht, verschleiert, keine Asylgründe hat oder Dublin-Fall ist, darf erst mal nicht einreisen.“ Er forderte Bundeseinreisezentren in Flughafennähe sowie eine Task Force des Bundes zur Abschiebung von Islamisten.

Im konkreten Fall muss nach Ansicht von SPD-Innenexperte Burkhard Lischka geprüft werden, ob die Behörden alle Instrumentarien – Meldeauflagen, Aufenthaltsbeschränkungen oder Abschiebehaft – genutzt haben, „um die Handlungsspielräume des Attentäters einzuschränken“. Generell wünscht er sich, dass auf „besonders kooperationsunwillige Herkunftsländer auch wirtschaftlicher Druck“ ausgeübt wird. Die Forderung hat die SPD oft erhoben. Bislang hat sich Entwicklungshilfeminister Geld Müller (CSU) allerdings stets gegen solche Strafmaßnahmen gesperrt.