Essen/Mardin. Ankara nutzt eine Gebietsreform von 2012 dazu, zahlreiche Klöster samt Grabstätten bei Mardin zu konfiszieren. Union fordert Aufklärung

Schier unendlich dehnt sich die mesopotamische Tiefebene vor den Dächern von Mardin, einer Provinzhauptstadt in Südostanatolien. Geprägt ist das Bild, wie überall in der Region, von zahlreichen Minaretten, aber auch von Kirchtürmen, den Zeugen der christlichen Geschichte der Stadt und ihrer Umgebung. Hunderte Jahre lebten hier unterschiedliche Kulturen und Religionen friedlich zusammen: Kurden, Aramäer, Türken und Araber, Christen und Muslime. Jetzt droht das christliche Erbe unter die Räder zu geraten: Der türkische Staat hat in den vergangenen Tagen zahlreiche Kirchen, Klöster, Ländereien und Grabstätten beschlagnahmt.

Die Region an der Grenze zu Syrien wird „Tur Abdin“ genannt, zu Deutsch: „Berg der Diener Gottes“. Angeblich sollen die Bewohner dieser Region bereits im ersten Jahrhundert von den Aposteln Thomas und Thaddäus zum Christentum bekehrt worden sein. Die ersten christlichen Zeugnisse datieren in der Spät- antike, einige der christlichen Klöster dort stammen aus dem vierten Jahrhundert und zählen somit zu den ältesten weltweit.

Vor dem Völkermord an den Armeniern, Assyrern und Aramäern vor hundert Jahren lebten dort Hunderttausende Christen. In den achtziger Jahren gerieten die Christen zwischen die Fronten des Krieges zwischen dem türkischen Militär und der kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Sie wurden von beiden Seiten bedrängt und einerseits der Kollaboration, andererseits der Kooperation mit „Terroristen“ beschuldigt. Zehntausend Christen verließen in den 80er- und 90er-Jahren ihre türkische Heimat. Heute leben noch etwa 2000 Aramäer in der Region.

Seit zehn Jahren kommt es immer wieder zu Enteignungen christlichen Eigentums durch den türkischen Staat. Für Schlagzeilen sorgten in der Vergangenheit die gerichtlichen Auseinandersetzungen um das syrisch-orthodoxe Kloster Mor Gabriel in der Nähe der Kleinstadt Midyat.

Jetzt hat der türkische Staat eine vor fünf Jahren beschlossene Gebietsreform dazu genutzt, zahlreiche Kirchen und Klöster samt Grabstätten bei Mardin zu konfiszieren und teilweise in den Besitz des islamischen Religionsamtes Diyanet zu überführen. Das bestätigte das Gouverneursamt der Provinz Mardin
gegenüber der türkischen Presse, nachdem der Stiftungsrat des Klosters Mor Gabriel Alarm geschlagen hatte. Nach Angaben der Gemeinde handelt es sich um mindestens 50 Klöster, Kirchen und Friedhöfe. Warum die christlichen Liegenschaf- ten ausgerechnet jetzt beschlagnahmt wurden, sagte das Gouverneursamt nicht. Auch nicht, was mit ihnen geschehen soll.

„Das ist eine neue und erschreckende Dimension“, sagt Daniyel Demir, der Vorsitzende des Bundesverbandes der Aramäer in Deutschland. Er befürchtet, dass die bis jetzt bekannt gewordenen Enteignungen „nur die Spitze des Eisbergs“ sind. Da die türkische Religionsbehörde Diyanet ausschließlich eine sunnitisch-islamische Agenda verfolge, sich aber weder für die Belange der Christen oder der Aleviten im Land einsetze, könne die Enteignung bedeuten, dass nun Kirchen und Klöster verkauft oder als Lager, Fabriken, Museen oder auch Moscheen genutzt würden. Derzeit versuchten die im Lande verbliebenen Aramäer herauszufinden, welche von den Hunderten Kirchen in Tur Abdin tatsächlich betroffen seien, berichtet Demir. Auch würden Juristen eingeschaltet. Der Sprecher der Aramäer fordert zudem die Bundesregierung zum Handeln auf: „Wir fordern, dass der Mantel des Schweigens endlich abgelegt wird.“

Demir ist auch enttäuscht über das Verhalten des türkisch-islamischen Verbandes Ditib, der als verlängerter Arm der türkischen Religionsbehörde in Deutschland gilt. „Die Toleranz, die man zu Recht in Deutschland einfordert, sollte auch den Minderheiten in der Türkei gewährt werden, dafür sollte sich Ditib einsetzen.“

Unionsfraktions-Vize Franz Josef Jung erwartet von der Bundesregierung Aufklärung über die Vorgänge in der Türkei. „Wir haben das Auswärtige Amt um eine Klärung des Sachverhalts gebeten“, sagte er unserer Zeitung. „Die Nachricht erfüllt uns aufgrund der Tatsache, dass in der Türkei Religionsfreiheit nicht voll gewährleistet wird, mit großer Sorge.“ Eine Enteignung durch die Hintertür widerspräche den vertraglichen Vereinbarungen, die die Türkei eingegangen sei.