Berlin.

Sie wollen ihn kämpfen sehen, und Martin Schulz gibt gleich am Anfang alles. Keine drei Minuten hat der SPD-Kanzlerkandidat am Sonntagmittag gesprochen, da geht er frontal auf die Kanzlerin los. Angela Merkels Strategie, im Wahlkampf keine konkrete Position zu beziehen, sei 2009 und 2013 erfolgreich gewesen, aber „nicht mehr 2017“, ruft Schulz. Das Publikum in der Dortmunder Westfalen-Halle jubelt, dann legt Schulz nach. Wenn die Regierungszentrale und das CDU-Hauptquartier systematisch die Debatte um die Zukunft des Landes verweigerten, wenn sie „mit System die Wahlbeteiligung absenken“, dann nenne er das „einen Anschlag auf die Demokratie“.

Der Parteichef stehtunter Druck

Anschlag auf die Demokratie? Das sind ungewöhnlich harte Worte des Herausforderers, der Merkel über viele Monate nie persönlich anging. Der Vorwurf ist überzogen, aber er gewährt einen kurzen Einblick in die Gefühlswelt des SPD-Chefs, der sich langsam um die Früchte seiner Anstrengungen betrogen sieht: Seit Mitte Mai die Landtagswahlkampf in NRW für die SPD verloren ging, kämpft Schulz mit höchstem Einsatz für eine Trendwende. Er eilt von Redeauftritt zu Redeauftritt, er hat ein Buch („Was mir wichtig ist“) herausgegeben, auf einer Theaterbühne Einblicke in sein Familienleben gegeben, Fehler eingeräumt und ein Bundestagswahlprogramm vorgelegt, das in Kernbotschaften von Steuerentlastungen und Rentenstabilisierung seine Handschrift trägt. Doch die Talfahrt in den Umfragen geht weiter, die SPD liegt jetzt bis zu 16 Prozentpunkte hinter der Union.

Der Parteichef steht also unter Druck. Schafft er die Wende? Dieser Parteitag soll den Wiederaufschwung einleiten, für die SPD und Schulz. Der Kanzlerkandidat macht schnell klar, dass er deshalb jetzt auf harte Konfrontation setzt: Die Union wolle sich in schwierigen Zeiten ohne Kompass „durchwursteln“, erklärt Schulz, sie gefährde damit die Zukunft des Landes. Die SPD werde es der Union nicht durchgehen lassen, dass sie die Rente aus dem Wahlkampf heraushalten wolle. Angstmacherei wirft Schulz der Union vor und eine neue Aufrüstungspolitik. Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble hätten zudem mit ihren ökonomischen Forderungen „viel Vertrauen in Europa verspielt“.

Es ist kein glanzvoller Auftritt, aber seine Rede enthält die obligatorischen Ingredienzien von grundsätzlicher Orientierung, Programm und Attacke. Die Genossen machen es ihm leicht und feiern ihn schon vor und während des Auftritts. Zum Schluss gibt es knapp zehn Minuten Applaus und „Martin, Martin“-Rufe.

Der Parteitag ist ganz auf Schulz zugeschnitten, auf Reden etwa vom gastgebenden NRW-Landesverband oder von Außenminister Sigmar Gabriel wird verzichtet. Dafür darf Altkanzler Gerhard Schröder in einem 20-minütigen Grußwort den Stimmungsteppich ausrollen. „Nichts ist entschieden“, sagt Schröder mit Blick auf die Bundestagswahl. „Es ist noch viel Zeit, um die Stimmung zu drehen.“ Der Altkanzler, der erstmals seit 12 Jahren wieder länger auf einem Parteitag redet, erinnert an die vorgezogene Bundestagswahl 2005. Damals habe die SPD mit ihm als Spitzenkandidaten in Umfragen zeitweise um über 20 Prozentpunkte hinter der Union gelegen – am Ende habe die CDU 35,2 Prozent erreicht und die SPD 34,2 Prozent. Schröder weiß, dass das eine Ausnahmesituation war: Seine Entscheidung zu Neuwahlen enttäuschte damals anfangs auch viele SPD-Anhänger und demoralisierte die Genossen – bis Merkel im Wahlkampf einen Fehler nach dem anderen machte und die Stimmung wieder kippte. „Was damals ging, das geht heute auch“, ruft Schröder. Viele Wähler träfen ihre Entscheidung erst am Wahltag, dies sei „unsere Chance“.

Das Umfragetief zehrt an den Nerven

Schröder ist weiter umstritten, nicht wenige Genossen machen ihn und seine Reform-Agenda für die schwierige Lage der SPD verantwortlich. Aber seine Botschaft kommt an, der Parteitag zeigt sich geschlossen wie selten. Das Wahlprogramm wird einstimmig verabschiedet. Noch am Sonnabend hatte Schulz im SPD-Vorstand Streitpunkte ausräumen lassen – Forderungen des linken Parteiflügels nach einer Anhebung des Rentenniveaus auf 50 Prozent des Durchschnittseinkommens oder nach Wiedereinführung der Vermögensteuer, die Schulz ablehnt, sollen um des Parteifrieden willen noch einmal geprüft werden. Dafür punktet Schulz mit Ansagen wie der, er werde „keinen Koalitionsvertrag unterschreiben, in dem die Ehe für alle nicht verankert ist“.

Jenseits der öffentlichen Auftritte zeigt inzwischen auch der Kanzlerkandidat Nerven; dass Umfragetief zehrt offenkundig an ihm. Stellenweise wirkt Schulz dünnhäutig wie SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück auf den letzten Metern vor der Wahl 2013.

Nur einmal bekräftigt der Vorsitzende das Ziel, Bundeskanzler werden zu wollen, es klingt nicht mehr so siegesgewiss wie noch im März. Strategen in der SPD stellen sich ja längst darauf ein, dass die SPD am Ende doch wieder als Juniorpartner in einer großen Koalition landen könnte. Schon wird auf den Parteitagsgängen spekuliert, dass mit SPD-Vize Olaf Scholz und Arbeitsministerin Andrea Nahles die nächste Generation für die SPD-Führungsämter bereitstehe. Aber vor der Wahl ist das nur hinter vorgehaltener Hand ein Thema. Nicht nur Schröder ermahnt die Genossen zu Disziplin, Geschlossenheit, aber auch Selbstbewusstsein. Die Partei müsse das Kanzleramt auch wollen, sonst bekomme sie es nicht, erklärt der Altkanzler den Genossen: „Auf dem Weg in dieses Amt darf es keine Selbstzweifel geben.“ Das gelte für den Kandidaten, aber auch für den Rest der Partei. „Auf in den Kampf“, ruft Schröder und setzt den spanischen Kampfruf „Venceremos“ hinterher: „Wir werden siegen.“