Berlin.

Selten ist ein Bundespräsident so gut vorbereitet ins Amt gekommen wie Frank-Walter Steinmeier am 19. März, ganz einfach war der Start für ihn trotzdem nicht. Die Umstellung sei „noch größer gewesen als gedacht“, gibt Steinmeier zu, auch wenn er eigentlich wusste, was ihn im Schloss Bellevue erwartet. Die Themen seien viel breiter als in seiner Zeit als Außenminister, die Gesprächspartner vielfältiger – und mit den Entscheidungen des politischen Alltags hat das Staatsoberhaupt selbstverständlich auch weniger zu tun. Zwei Jahrzehnte hantierte Steinmeier an den Hebeln der Macht, im höchsten Staatsamt hat er jetzt zwar viel zu sagen, aber wenig zu entscheiden. Doch nach 100 Tagen im Schloss Bellevue, die auch 100 Tage Annäherung ans Amt waren, ist Steinmeier mit sich im Reinen. Er sei gut angekommen, versichert der Präsident: „Ich bin jetzt da.“ Und wo immer der Präsident auftritt, hinterlässt er den Eindruck, die neue Aufgabe tatsächlich zu genießen – das Denken in längeren Linien ebenso wie die Begegnung mit den Bürgern.

Kritiker vermissen die eigene Handschrift

Vergangene Woche etwa beim Antrittsbesuch in Brandenburg enthält das eng getaktete Programm ein paar Sehenswürdigkeiten, den Schlosspark Sanssouci in Potsdam etwa oder eine Kahnfahrt im Spreewald, dazu Begegnungen mit Honoratioren und Landespolitikern. Doch vor allem treffen Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender fröhlich und entspannt ganz normale Bürger. In Potsdam ermuntert das Staatsoberhaupt Uni-Absolventen, sich durch Rückschläge nicht aufhalten zu lassen, und berichtet ganz offen von der krachenden Wahlniederlage als SPD-Kanzlerkandidat 2009. „Das war bitter“, erzählt Steinmeier. In Forst lässt er sich von Schülern der Europaschule deutsch-polnische Gemeinschaftsprojekte schildern, in Cottbus spricht er mit Auszubildenden. Und in Lübbenau trifft er Ehrenamtliche des Netzwerks Gesunde Kinder, lobt die „hoch motivierten Menschen“.

Es ist wie immer: Die Bürger staunen, wie locker und zugewandt Steinmeier ist – und wie herzlich auch seine Frau auftritt, die so schnell wie stilsicher in die Rolle der First Lady gefunden hat. Die beiden registrieren umgekehrt „einen ungeheuren Gesprächsbedarf“ vieler Menschen. Seit Ende April ist Steinmeier in Begleitung seiner Frau auf einer „Deutschlandreise“ zu Antrittsbesuchen in den Bundesländern, bei denen er immer auch Orte demokratischen Engagements besucht. Ob in Rosenheim, Darmstadt oder Wiesmoor – man komme viel leichter mit den Bürgern ins Gespräch, erzählt der Präsident. Das Interesse sei riesengroß und die Scheu der Bürger kleiner als früher zu seinen Ministerzeiten. „Viele wollen ihr Anliegen einfach mal loswerden und ernst genommen werden.“ Doch so volksnah der Präsident jetzt auftritt – Spuren hinterlässt er mit den Begegnungen, Empfängen und Einträgen in Goldene Bücher nicht.

Es waren bisher vor allem die Auslandsreisen, mit denen der frühere Außenminister Aufmerksamkeit geweckt hat. Steinmeier ist nicht nur gleich nach Amtsantritt nach Frankreich gereist, er hat sich rasch schwierige Ziele ausgesucht: Griechenland, Polen – und dann die herausfordernde Reise nach Israel, wo er die Aufregung dämpfen musste, die bei einem Besuch seines Nachfolgers Sigmar Gabriel entstanden war. Der Präsident hat die Herausforderung in Israel bestanden und die Lage entspannt, ohne die deutsche Position infrage zu stellen. Der Ton bei Begegnungen im Ausland sei jetzt ein anderer, sagt Steinmeier: Als Präsident kann er freier formulieren, ohne schon an das nächste Zusammentreffen denken zu müssen.

Für Aufsehen sorgte etwa seine Antrittsrede im Bundestag im März, als er sich in überraschender Deutlichkeit den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vornahm: „Respektieren Sie den Rechtsstaat und die Freiheit von Medien und Journalisten! Und geben Sie Deniz Yücel frei.“ Wenige Tage später, bei einer Rede im Straßburger EU-Parlament, kritisierte er offen den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán wegen der drohenden Schließung einer privaten Universität. Doch schnell gerät Steinmeier mit solchen Wortmeldungen in den Verdacht, er setze im neuen Amt einfach seine frühere Außenpolitik mit anderen Mitteln fort. 70 Prozent seiner Zeit sei er mit inländischen Themen befasst, versichert der Präsident. Die Herausforderungen der Demokratie etwa durch „die neue Faszination des Autoritären“ treiben Steinmeier um. „Die Zersetzung der Vernunft ist der Anfang der Zersetzung der Demokratie“, warnte er etwa auf dem Evangelischen Kirchentag, wo er mit viel Beifall bedacht wurde. Der Präsident will Zuversicht verbreiten, das demokratische Selbstbewusstsein stärken. Kaum ein Besuch innerhalb Deutschlands, bei dem er nicht irgendwo in einer Begegnung das ehrenamtliche Engagement preist, das „so unglaublich wertvoll für die Demokratie“ sei, wie er etwa in Wiesbaden sagte.

Das alles ist stimmig, aber doch weitgehend glanzlos. Manches wirkt schon fast zu routiniert. Steinmeier ist, wie es in seiner Umgebung heißt, „ein beschriebenes Blatt“. Bei seinem Vorgänger Joachim Gauck, dem Seiteneinsteiger mit der spannungsreichen deutsch-deutschen Biografie, war die öffentliche Neugier groß – Steinmeier genießt zwar den Vorteil großer politischer Erfahrung, aber als der „nette Herr Steinmeier“ kann er nur wenig überraschen. Da macht es schon Schlagzeilen, wenn der Personalrat des Präsidialamtes zurücktritt, weil er sich in die Neueinstellung von Mitarbeitern nicht ausreichend eingebunden fühlt.

In einer Umfrage bewerteten die Bundesbürger den neuen Bundespräsidenten kürzlich mit der Schulnote 2,7 – ganz gut, aber durchaus steigerungsfähig.

Schon melden sich erste Kritiker, die die eigene Handschrift des Präsidenten, die große Rede vermissen. Aber das ist eine Klage, die bislang noch jeden Bundespräsidenten in seinem ersten Amtsjahr verfolgte. Bei Steinmeier ist sie wohl besonders unbegründet: Er ist ja nicht zufällig in dieses Amt geraten, er hat, daran lässt er keinen Zweifel, einen Plan. Sechs, sieben Wochen hat er sich zu Jahresanfang konzentriert auf die Aufgabe vorbereitet, sich mit engen Vertrauten zurückgezogen, die Arbeit früherer Präsidenten studiert und über die großen Themen nachgedacht. Wie gerecht es im Land zugeht, ob die Chancen fair verteilt sind, gehört zu den Fragen, die Steinmeier schon bei seiner Nominierung aufgeworfen hat. Aber im Präsidialamt weiß man auch, dass innenpolitische Wortmeldungen jetzt schnell als Einmischung in den Bundestagswahlkampf verstanden werden können. Das möchte der frühere SPD-Politiker, dessen Parteimitgliedschaft jetzt ruht, wohl vermeiden. So ist er erst mal weiter auf seiner großen Deutschlandreise unterwegs, um sich die Sorgen und Hoffnungen der Bürger anzuhören und das Land in seiner ganzen Bandbreite kennenzulernen, wie er sagt. Er wolle, hat der frühere Außenminister erklärt, „das eigene Land mit neuen Augen sehen“.