Hamburg/Berlin. Der Universitätsdozent tritt bei den Grünen aus. Ihre Spitzenpolitiker sind ihm zu pragmatisch, zu machtbewusst.

An diesem Freitag, pünktlich zum Beginn des Parteitages, der das Wahlprogramm verabschieden soll, wird bei der Zentrale der Grünen ein Brief eintreffen, den Ulfert Oldewurtel eigentlich nie schreiben wollte. Der 34 Jahre alte Dozent der Hamburger Universität hat ihn aufgesetzt, „formlos“ und am Donnerstag abgeschickt.

Der Brief beginnt mit der Anrede „Liebe Freundinnen und Freunde“. So machen das die Grünen, wie die „Genossen“ bei der SPD, sind die Grünen „Freunde“. Sie duzen einander fast immer, sind jener „bunter Haufen“, bei dem man sich wohlfühlt. Doch der erste Satz des Briefes endet so: „(...) erkläre ich hiermit zum nächstmöglichen Zeitpunkt meinen Austritt bei Bündnis 90/Die Grünen.“ Es sind dann doch drei Seiten geworden, beendet mit den üblichen „grünen Grüßen“. Er hätte ihn per E-Mail versenden können. Aber er wollte ihn unterschreiben, seinen Abschiedsbrief von den Grünen, das war ihm wichtig.

Mit Kakteen in den Bundestag

Als Oldewurtel von Ostfriesland für das Studium nach Berlin zog, war er 19 Jahre alt. „Der Eintritt in eine Partei war für mich so etwas wie ein Schritt in das Erwachsenenwerden“, sagt er, „wie die erste Wohnung und die Haftpflichtversicherung.“ Er wusste früh, dass die Grünen „die Richtigen“ sind. Er hatte mit 16 Jahren einmal ein Praktikum bei der Partei gemacht und dabei auch Claudia Roth getroffen. „Natürlich geht sie mir heute mit ihrer Art auch auf den Keks“, sagt er, „aber ich fand es super, dass sie Emotionen offen zeigte, weil sie ehrlich waren.“ Er meint im Grunde die Art, mit welcher Selbstverständlichkeit diese „Freundinnen und Freunde“ miteinander umgingen, auch „kritisch und streitfroh“, das imponierte ihm.

Das war für ihn die Partei derjenigen, die ausgelacht wurden, als sie mit Kakteen in den Bundestag kamen. In den 80er-Jahren war es radikal, einen Button „Atomkraft – Nein Danke“ auf dem Hemd zu tragen. Und es war radikal, dass die „Alt-Grünen“ Christian Ströbele oder Gila Altmann trotz Anrecht auf Dienstwagen ihr Fahrrad nahmen. Und jetzt sitzen die Grünen-Chefs Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt vor der Hauptstadtpresse und präsentieren ihr „Zehn-Punkte-Programm für grünes Regieren“, mit dem es wieder aufwärtsgehen soll, intern und extern.

Das Wort „Austrittswelle“ kursiert

Oldewurtel ist nicht der Einzige, der derzeit mit dieser jüngsten der etablierten Parteien hadert. Wer sich unter jungen Grünen umhört, bekommt schon das Wort „Austrittswelle“ zu hören. Allein in diesem Frühjahr gab es mehrere prominente Grünen-Austritte: Claudia Stamm und Werner Gaßner in Bayern, Susanne Wendland aus Bremen und Mürvet Öztürk aus Hessen. Letztere hatte schon 2015 ihre Fraktion verlassen.

Öztürk trat nach 16 Jahren aus, sagt sie, weil ihre Partei plötzlich Sammelabschiebungen in sogenannte sichere Drittstaaten wie zum Beispiel Afghanistan befürwortete. Aber nicht nur das: „Die Diskussionskultur bei den Hessischen Grünen hat sich komplett geändert“, sagt sie, „strittige Anträge haben häufig keine Chance mehr, viel wird bereits vor den Sitzungen vorgefiltert.“ Sie wolle erst einmal als unabhängige Abgeordnete weitermachen. „Ich glaube weiter daran, dass es ein linkes Korrektiv geben muss, aber das waren die Grünen in letzter Zeit für mich eben nicht mehr.“

Gerede von Jamaika stört ihn

Ulfert Oldewurtel hat die Bewerber um die Spitzenkandidatur im Januar bei einer Vorstellungsrunde für die Urwahl gesehen und er wird wütend, wenn er an dieses Erlebnis denkt. „Da sitzen vier SpitzenkandidatInnen“, sagt er und spricht das Binnen-I korrekt abgesetzt aus, „und nur eine von ihnen ist eine Frau – bei meinen Grünen!“ Da es seit der Gründung der Partei eine Frauenquote gibt, war damit Göring-Eckardt schon gesetzte Kandidatin. Ihr zur Seite steht nun mit Cem Özdemir noch ein weiterer Vertreter des realpolitischen Flügels statt eines Linken.

Dann stört ihn das Gerede von Schwarz-Gelb oder Jamaika. „Ich will eine Partei, die sich hohe Ziele steckt, viel höher als die, die in einer Legislaturperiode erreichbar sind.“ Aber genau diesen Idealen erteilte Özdemir eine Absage: Er wolle kein „Wünsch-dir-was“, sagte er, sondern „umsetzbare Ideen“.

Der Bayerische Ex-Grüne Werner Gaßner trat auch aus, weil er seine Partei nicht mehr wiedererkannte. „Bei den Abschiebedemos habe ich auch kaum noch Grüne gesehen.“ Darüber hinaus sei es aber eher ein Gefühl, das abhanden kam. „Als Parteichefin Simone Peter Anfang Januar berechtigterweise den Polizeieinsatz in Köln infrage gestellt hat und ich sie unterstützte, musste ich derart viele Angriffe ertragen“, sagt Gaßner und meint: auch aus den eigenen Reihen. „Das hat mich doch schockiert.“ Er war enttäuscht, dass selbst die Stellung zur „Ehe für alle“ schon parteiintern den Koalitionsgesprächen untergeordnet wurde. Gaßner hat jetzt mit der Ex-Grünen Claudia Stamm eine neue Partei gegründet: „Zeit zu handeln“.

Ulfert Oldewurtel findet in seinem derzeitigen Hamburger Alltag genug Themen, die auf die Agenda der Grünen gehört hätten. Nicht nur die „Ehe für alle“, für die weder Özdemir noch Göring-Eckardt glaubhaft bisher gekämpft haben, oder den Klimaschutz, den ohnehin alle Parteien inzwischen unterstützen. „Fast alle StudentInnen, die ich an der Uni treffe, kommen aus einer Akademikerfamilie“, sagt er. „Ich als Dozent bin oft das einzige Nichtakademiker-Kind im Raum.“ Es müsse möglich sein, dass diese auch heute Zugang zu höherer Bildung haben.

Doch nur eine Episode

Am Ende einer langen Diskussion, die sich zum Teil im Brief wiederfindet, wird er noch einmal leise. Es gebe derzeit keine andere Partei, die seine Meinung vertrete, sagt er. „Ich bin dann politisch heimatlos.“ Im September wolle er zum ersten Mal taktisch wählen. Er wird also eine bestimmte Kombination aus Erst- und Zweitstimme ankreuzen. Er hatte es bisher einfach. Er habe immer seine „Freunde“ gewählt.

Den Mitgliedsbeitrag von einem Prozent des Bruttolohns hatte er gern gezahlt. Als Student waren es fünf Euro monatlich. 16 Jahre lang war er dabei. Er wird den inzwischen knittrigen Mitgliedsausweis aus Recycling-Papier in die Schublade legen, in der sein Londoner Studentenausweis und die Sozialversicherungskarte aus den USA liegen. Er sagt: „Dann waren sie eben doch nur eine Episode in meinem Leben.“