Berlin. Nach dem Wahlausgang in Großbritannien wartet die EU auf den Beginn der Austrittsverhandlungen. In Brüssel und Berlin wachsen aber Zweifel am Zeitplan

Die Bundeskanzlerin hüllte sich in Schweigen. Angela Merkel wollte den Wahlausgang in Großbritannien „aus Höflichkeit und Respekt“ zunächst nicht kommentieren, wie eine Regierungssprecherin erklärte. Der Koalitionspartner war da schon offensiver. Außenminister Sigmar Gabriel und SPD-Chef Martin Schulz machten aus ihrer Genugtuung über die Schlappe der Konservativen keinen Hehl und befanden, Theresa May habe zu Recht die Quittung für ihr Vorgehen bekommen.

Die Bürger auf der Insel sollten nun noch mal über die Art und Weise des Austritts aus der EU nachdenken, mahnte Gabriel. Große Hoffnung auf eine Kursänderung macht sich in Berlin indes kaum jemand. Und klar ist auch, dass die Musik bei diesem Thema jetzt in Brüssel spielt. Von dort kamen am Freitag klare Signale: Die EU bleibt gerüstet, am Montag übernächster Woche mit der Regierung in London die Verhandlungen über den Scheidungsvertrag aufzunehmen.

„Wir sind bereit“, erklärte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Mit Schadenfreude über „Mays Eigentor“ hält man sich nicht lange auf. Zwar gönnen die meisten EU-Verantwortlichen der Premierministerin, die sich als Vorkämpferin für einen „harten Brexit“ präsentiert hat, die Niederlage. Doch ist allen bewusst, dass der Schaden auch die EU-Partner erreichen wird. Auch wenn May beim Zeitplan bleiben will – in Brüssel laufen Zweifel um. „Wir warten auf Besuch aus London“, meint Kommissionschef Juncker. Sein Chefunterhändler Michel Barnier bleibt ebenfalls vage: „Die Brexit-Verhandlungen sollten beginnen, wenn Großbritannien soweit ist.“ Herbert Reul, Chef der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament, ist sich hingegen sicher: „Der Start am 19. Juni wird nicht zu halten sein.“

So oder so, die Frist für den Brexit-Vertrag endet am 29. März 2019, Ratifizierung durch sämtliche 27 nationalen Parlamente eingeschlossen. Wenn man dafür ein halbes Jahr veranschlagt, bleiben für den Abschluss des Abkommens selbst knapp anderthalb Jahre. „Dieser Kalender ist keine Option, sondern rechtlich verbindlich“, betont EU-Finanzkommissar Pierre Moscovici. Zwar ist Fristverlängerung möglich. Sie bedürfte aber der Einstimmigkeit – jede Regierung könnte den Brexit-Vertrag als Hebel für eigene Anliegen nutzen.

Vollends unkalkulierbar sind die inhaltlichen Folgen des britischen Votums. Vor allem stellt sich die Frage, wie kompromisslos May auf „hard Brexit“ beharrt. Die EU-Verantwortlichen hatten gehofft, eine fester im Sattel sitzende Premierministerin werde an diesem Punkt mehr Beinfreiheit haben. Stattdessen könnte sie mangels solider Mehrheit von beiden Seiten in Bedrängnis gebracht werden: Sowohl von den Brexit-Hardlinern in den eigenen Reihen wie von Vertretern einer weicheren Linie der nordirischen DUP, auf deren Unterstützung May angewiesen ist.

Kein Wunder, dass vor diesem chaotischen Hintergrund die Hoffnung wieder aufkeimt, die Briten könnten sich eines Besseren besinnen und die ganze Brexit-Quälerei abblasen. „Die EU sollte jetzt ein Signal an die britischen Bürger senden – nichts ist irreversibel!“, erklärt schon der FDP-Europaabgeordnete Michael Theurer. SPD-Chef Schulz geht nicht ganz so weit, sieht aber durchaus eine „große Dynamik“ in der Brexit-Debatte. Das Wahlergebnis sei eine „schallende Ohrfeige“ für die Befürworter eines EU-Austritts, im Londoner Parlament gebe es nun eine Mehrheit von Brexit-Skeptikern. „Die Brexit-Verhandlungen“, meint der SPD-Chef, „werden in einem völlig neuen Licht zu bewerten sein.“ EU-Spitzenpolitiker wollten sich am Freitag mit dem Szenario eines Verbleibs Großbritanniens in der EU lieber nicht befassen. Angesichts der instabilen Regierungsverhältnisse in London drohe sonst das Chaos von der Insel nach Brüssel zu schwappen.