London.

24 Stunden nach dem Anschlag von London steht Narendra Patel an der Polizeiabsperrung in der Nähe des Borough Market. „Mein Shop ist dort vorn, wo die Polizeiautos stehen“, sagt er. Aber auch Patel darf nicht hinter die Flatterbänder. Er nimmt sein Mobiltelefon und startet ein Programm, das die Überwachungskameras in seinem kleinen Lebensmittelladen zeigt. „Von diesem Bildschirm habe ich gestern von dem Attentat erfahren“, sagt er. „Ich saß in meiner Wohnung und wollte nur sehen, ob meine Mitarbeiter einen guten Job machen.“ Doch auf einmal stürmten Menschen in Panik in seinen Laden – um sich vor den Attentätern draußen auf der Straße in Sicherheit zu bringen.

Großbritannien ist binnen weniger Wochen zum dritten Mal Ziel eines Terroranschlags geworden. In der Nacht zu Sonntag rasten drei Männer mit einem weißen Lieferwagen in eine Passantengruppe auf der London Bridge. Sie fuhren weiter, stürmten in der Nähe des Borough Market mit Messern in Richtung der Cafés und Restaurants und stachen wahllos auf Menschen ein. Die Gegend ist ein beliebtes Kneipenviertel, viele Menschen feierten hier gerade den Sieg von Real Madrid im Champions-League-Finale.

Acht Minuten dauerte es, vom ersten Alarm bis zu dem Moment, als die drei Täter erschossen vor dem Pub „Wheatsheaf“ lagen. Doch die Lage blieb noch lange angespannt. Weil zunächst niemand wusste, ob nicht noch weitere Täter unterwegs waren, mahnte die Polizei Anwohner sowie Passanten zur Vorsicht und evakuierte das Areal.

Erst vor zwei Wochen hatte sich ein Selbstmordattentäter in Manchester in die Luft gesprengt und 22 Menschen getötet. Auch der Anschlag von Westminster im März, bei dem fünf Menschen starben, ist vielen in London noch sehr präsent. Diesmal gehen die Behörden von mindestens sieben Toten und rund 50 Verletzten aus, am Montag lagen noch viele auf der Intensivstation.

Dass die Anschläge nicht noch weitere Opfer forderten, ist auch Menschen wie Mark Kindschuh zu verdanken. Der 22-jährige US-Amerikaner betreute zusammen mit einem Barkeeper einen Mann, der mit mehreren Wunden in einer Bar lag. „Wir haben mit meinem Gürtel seine Wunde abgebunden“, erzählte Kindschuh später, „aber da war so viel Blut.“ Der Mann überlebte. Andere berichteten, wie sie die Attentäter mit Stühlen und Gläsern bewarfen, um die Terroristen aufzuhalten.

Am Sonntag und Montag beschreiben viele Londoner die Stimmung in der Stadt als „subdued“ — gedämpft. Am Anschlagsort liegen weniger Blumen als erwartet, ganz so, als ob viele noch zu verwirrt sind, um zu wissen, was sie tun sollen. Was, wenn das jetzt immer so weitergeht?

Als Helden der Nacht werden neben den vielen Rettungskräften und Sicherheitsleuten vor allem jene Streifenpolizisten gefeiert, die als erste vor Ort waren. Nur mit einem Schlagstock bewaffnet war ein Beamter den drei Attentätern entgegengetreten. Er selbst wurde schwer durch Messerstiche verletzt, überlebte aber. Ein Kollege griff mit bloßen Händen ein. Er war nicht im Dienst, wollte nur mit Freunden in dem Kneipenviertel etwas trinken gehen. Auch er wurde schwer verletzt. Die Londoner Polizeichefin Cressida Dick lobte die Polizisten und Helfer am Montag als „absolut heldenhaft“.

Das erste Todesopfer, das namentlich bekannt wurde, ist Christine Archibald. Die 32-jährige Kanadierin wollte mit ihrem Verlobten ein verlängertes Wochenende in London verbringen. Doch es kam anders: Archibald gehörte zu den Passanten auf der Brücke, die die Attentäter mit ihrem Lieferwagen attackierten, sie starb nach Medienberichten noch am Anschlagsort in den Armen ihres Freundes.

Andere dagegen hatten unglaubliches Glück: „Ich mache jede Nacht um diese Zeit einen langen Spaziergang durch genau diese Gegend, immer über die London Bridge, immer am Market vorbei“, erzählt Andrew Calderwood, der in einem Restaurant gleich neben dem Borough Market arbeitet. Nur an diesem Abend bat seine Freundin ihn, etwas länger bei ihr zu bleiben. Der 29-Jährige macht sich nun Sorgen, um seine muslimischen Freunde. „Nach jedem dieser Attentate bleiben einige von ihnen lieber ein paar Tage zu Hause.“ Sie wollten nicht angepöbelt werden. Das Gemeinschaftsgefühl in London, sagt er, werde leiden, egal wie kosmopolitisch die Stadt auch sei.

„Wir müssen da jetzt durch, und zwar zusammen“

Die Niederländerin Nicole Wevers wohnt nur zwei Minuten vom Anschlagsort entfernt, seit 28 Jahren lebt sie in London. Sie war am Sonnabend auf einem Popkonzert, obwohl sie weiß, dass in diesen Tagen schon ein Konzertbesuch ein Risiko sein kann. „Aber ich habe damals schon die IRA-Attentate mitgemacht und lasse mich davon nicht beeindrucken.“ Vielleicht, sagt sie, sei es auch die Häufung der Anschläge, die sie so ruhig werden lasse, ganz so, als gehöre der Terror jetzt zum Alltag. „Wenn wir unser Leben ändern, haben die gewonnen“, sagt Wevers. Noch in der Terrornacht hat sie auf Facebook gefragt: „Wer kommt nächste Woche mit in den Borough Market, etwas trinken?“ Viele Freunde antworteten, sie seien dabei. „Wir müssen da jetzt durch, und zwar zusammen.“