Kabul.

Die Angreifer kamen kurz vor Mitternacht: Bei einem Überfall auf das Gästehaus einer schwedischen Hilfsorganisation in der afghanischen Hauptstadt Kabul ist eine deutsche Entwicklungshelferin getötet worden. Das bestätigte das Auswärtige Amt auf Anfrage dieser Zeitung. Zu Namen, Alter und Herkunft der Deutschen hielt sich die Behörde bedeckt. Nach Angaben der schwedischen Hilfsorganisation Mercy war die Frau eine sehr erfahrene Entwicklungshelferin. „Sie lebte seit zehn Jahren in Afghanistan und hat seit 2011 für Operation Mercy gearbeitet“, sagte eine Sprecherin der Organisation. Sie habe in dem Gästehaus gelebt und zuletzt ein Alphabetisierungsprojekt geleitet.

Bei dem Angriff ermordeten die unbekannten Täter auch einen einheimischen Wachmann. Eine Frau aus Finnland wird vermisst. Sie wurde offenbar gekidnappt. Umstände und Motiv des bewaffneten Überfalls waren am Sonntag noch offen.

Das Ziel des tödlichen Angriffs: eine Unterkunft der schwedischen Hilfsorganisation Operation Mercy. Am Sonnabend gegen 23.30 Uhr Ortszeit seien bewaffnete Männer in das Gästehaus eingedrungen, sagte der Sprecher des afghanischen Innenministeriums, Nadschib Danisch. „Wir können nicht sagen, ob der Zwischenfall einen kriminellen oder terroristischen Hintergrund hat.“

Über die flüchtigen Täter ist bislang nichts bekannt. Sie hätten sich leise auf das Gelände geschlichen, Schusswechsel seien nicht zu hören gewesen, sagten Nachbarn. Eine dritte Frau, eine Holländerin, habe sich vor den Eindringlingen verstecken können.

Sicherheitsanalysten halten mehrere Szenarien für denkbar. Zum einen könnte der Überfall das Werk der Kidnapping-Mafia von Kabul sein. Dieser waren 2016 mindestens vier Ausländer – darunter eine Inderin, ein Amerikaner und ein Australier – sowie viele afghanische Geschäftsleute zum Opfer gefallen. Die meisten Opfer kommen relativ schnell wieder frei. Der Amerikaner und der Australier sind allerdings mittlerweile in den Händen der Taliban.

Informierte Kreise sagen, die Mafia habe Unterstützung bis in hohe afghanische Politikkreise. Unter den Opfern sind auffallend viele Frauen. 2015 hatten Entführer in Kabul auch eine Mitarbeiterin der deutschen staatlichen Entwicklungshilfsorganisation GIZ entführt. Die Frau war nach zwei Monaten freigekommen. Bisher hatten die Entführer ihre Opfer in den meisten Fällen aus ihren Autos entführt – auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause. „Sollte die Mafia jetzt anfangen, auch in Gästehäuser einzubrechen, wäre das eine klare Eskalation“, so ein Sicherheitsexperte.

Hintergründe und Motive der Attentäter sind unklar

Eine andere Möglichkeit: Der Überfall könnte ein gezielter Angriff auf die schwedische Nichtregierungsorganisation gewesen sein. Operation Mercy ist eine christliche Vereinigung. Glaubensbasierte Angriffe sind zwar selten, kommen aber immer wieder vor. Zuletzt hatten die Taliban 2014 das Gästehaus einer Organisation angegriffen, die sie für Missionare hielten. „Christliche Missionsarbeit ist ein rotes Tuch in Afghanistan – nicht nur für die Taliban“, sagte Thomas Ruttig, Direktor des Afghanistan Analysts Networks, dieser Zeitung. Ruttig hält „eine dritte Variante“ für möglich: „Es könnte auch eine Auftragstat gewesen sein. Kriminelle arbeiten oft als Dienstleister für die Taliban.“ Berichte afghanischer Medien, denen zufolge die Angreifer den getöteten Wachmann geköpft hätten, ließen sich bis Sonntagabend nicht bestätigen.

Es war ein blutiges Wochenende am Hindukusch: Am Tag des Überfalls auf das Gästehaus von Operation Mercy töteten die Taliban mindestens 20 Polizisten.