Sotschi.

Angela Merkel erreicht nicht viel in Sotschi. Was die Kanzlerin von Wladimir Putin bekommen will, das erhält sie allerdings. Der russische Präsident sichert zu, sich für den Frieden in der Ukraine einzusetzen. Merkel ist illusionslos. Es gehe „langsam“ voran, immer rede man „über die gleichen Sachen“, trete auf der Stelle. Und doch müssten sie sich um Gespräche bemühen. Denn: Wenn es sie nicht gäbe, pflichtet Putin bei, dann wäre „die Lage viel schlechter.“

Der Russe muss sich im „sachlichen Gespräch“ (Putin) einiges anhören, auch vor der Presse: Kritik am Umgang mit Demonstranten und – besonders dramatisch in Tschetschenien – mit Homosexuellen. Auf die Frage, ob Russland nach dem amerikanischen auch den deutschen Wahlkampf beeinflussen wolle, antwortet er: „Es ist uns nie in den Kopf gekommen, das sind nur Gerüchte, durch nichts bewiesen.“ Er wirkt ehrlich pikiert.

Sieben Stunden sitzt Merkel im Flugzeug, vier Stunden verbringt sie an der russischen Riviera. Warum Putin dort seine Sommerresidenz hat, versteht man gleich bei der Ankunft in Sotschi am Schwarzen Meer. Die Temperatur liegt bei 26 Grad, der Himmel ist strahlend blau, im Hinterland des Badeortes erkennt man die schneebedeckten Gipfel der Berge, eine großartige Kulisse. Anfang Mai ist Reisezeit in Russland. Wer kann, baut sich eine Brücke zwischen den Feiertagen am 1. am 9. Mai, dem Tag des Sieges über Deutschland. Der Präsident ist seit Tagen in Sotschi, erst ließ sich Putin beim Formel-1-Rennen blicken, dann beim Eishockeyspielen beobachten.

Abgerissen ist der Gesprächsfaden nie

Es ist Merkels erster Besuch in Russland seit zwei Jahren. Da sie die Gastgeberin beim G-20-Gipfel Anfang Juli in Hamburg ist, hat es den Anschein einer Pflichtreise; auch wenn Putin viele Teile ihrer Agenda (Hilfe für Afrika, Frauenförderung, Klimaschutz) vermutlich nur zur Kenntnis nehmen wird, nicht mehr. Nach dem Treffen mit ihr telefoniert Putin am Abend mit US-Präsident Donald Trump, für den heutigen Mittwoch hat sich der türkische Machthaber Recep Tayyip Erdogan in Sotschi angekündigt. Putin ist ein gefragter Mann, allemal ein Machtfaktor, er lässt andere gern kommen.

Der G-20-Gipfel ist das letzte Forum, wo sich die Präsidenten von Amerika und Russland regelmäßig sehen. Viel schlechter als unter Barack Obama könnten die Beziehungen zwischen beiden Staaten kaum sein. Eigentlich hatte man gedacht, dass sie sich unter Trump bessern würden; der Amerikaner hatte diese Erwartung selbst geschürt. Aber jetzt ist er seit einem halben Jahr gewählt, seit Januar im Amt und noch immer beobachten sie sich nur aus der Ferne.

Merkel wäre es recht, wenn sie sich noch vor Hamburg sähen, denn auf vielen Krisenherden kommt es auf beide Staaten an, in Afghanistan, in Libyen, vor allem im Syrien-Krieg. Da spielt Deutschland keine große Rolle. Da kommt es auf Putin, auf die USA, den Iran und nicht unwesentlich auf die Türkei an. Der Westen lehnt den syrischen Machthaber Baschar al-Assad ab. Die regelmäßige Standardfrage Putins auf vielen internationalen Treffen lautet: Was ist eure Alternative? Keine schlechte Frage. Die syrische Opposition gilt als zerstritten und radikal. Merkels Hoffnung ist, dass Putin – jetzt, wo er für alle Welt sichtbar ein Machtfaktor und Teil der Lösung ist – hilft, den Krieg zu beenden. Irgendwann wird er eine Trophäe nach Hause mitnehmen wollen – Wladimir, der Friedensstifter?

Ihr Hauptaugenmerk richtet Merkel in Sotschi auf die Ukraine-Krise. Sie und Putin halten an der OSZE und am sogenannten Minsker Prozess fest, streben also keine neuen Vereinbarungen an. „Ich halte nichts davon“, sagt Merkel. Stattdessen: Weiter machen, immer weiterreden, das ist ihr Credo, zumal in Anbetracht der Realitäten. Würden die Separatisten mit russischer Hilfe heute auch den Westen des Landes unter ihre Kontrolle bringen, würden die EU oder die Nato nicht militärisch eingreifen. Putin kann eskalieren – der Westen kann oder will es nicht.

Schon jetzt haben die Separatisten mit Putins Hilfe Fakten geschaffen, den Rubel als Währung eingeführt, Betriebe unter ihre Kontrolle gebracht. Putin versucht, die Ukraine dauerhaft zu destabilisieren, die Europäer halten dagegen und die Sanktionen gegen Russland aufrecht. Wobei das mit den Sanktionen so eine Sache ist. Putin erwähnt in Sotschi zweimal, dass Deutschland trotz aller Schwierigkeiten der zweitgrößte Handelspartner nach China, der beste Abnehmer von russischem Erdgas und der wichtigste Auslandsinvestor sei. So dramatisch können die Sanktionen also nicht sein.

Abgerissen ist der Gesprächsfaden zwischen Merkel und Putin auch nie. Aber mit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 ist schon etwas zu Bruch gegangen. Merkel kommt immer wieder auf einen Punkt zurück, der für sie am Ausgang steht: auf den Waffenstillstand, nach ihrer Analyse „die Schlüsselfrage“ – ungeachtet aller Rückschläge. So war zuletzt ein Mitarbeiter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in der Ukraine bei seiner Beobachtermission zu Tode gekommen.

Solange der Waffenstillstand brüchig ist, kommt der Minsker Friedensprozess nicht voran. Die bittere Wahrheit ist: Der Russe hat kein Interesse, die Ukraine zu stabilisieren. Weder darf sie ein Modellstaat werden – noch sollen die Europäer, die vermittelnd tätig sind, einen Verhandlungserfolg erzielen. Wo er kann, schwächt er die EU. Nicht zufällig hat Putin die französische Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen empfangen, eine ausgewiesene EU-Kritikerin. Einerseits. Andererseits hat er gerade weiteren Gesprächen nach dem sogenannten Normandie-Format zugestimmt, das heißt: mit Deutschen, Ukrainern und Franzosen, ganz gleich, wer die Präsidentschaftswahlen gewinnt. Und so macht Merkel beides, sie übt Druck aus und versucht, Putin in konstruktive Lösungen einzubinden. Das ist schon alles. Oder schon viel.