Paris.

Der Polizistenmord mitten in Paris trifft Frankreich ins Herz. Nur wenige Stunden vor der ersten Runde der Präsidentenwahlen hat sich der Terror zurückgemeldet. Während die Kandidaten im TV-Sender France 2 am Donnerstagabend Rede und Antwort zu ihren Programmen stehen, schlägt der Angreifer kaltblütig zu und wird dann erschossen. Mehrere Kandidaten, unter ihnen der als Favorit geltende Sozialliberale Emmanuel Macron und die Rechtsextremistin Marine Le Pen, sagen Wahlauftritte ab. Mit der Bluttat auf den Champs-Élysées rückt das Thema innere Sicherheit wieder in den Mittelpunkt der politischen Debatte. Es beschäftigt das Land wie kein anderes und hat die Rechtsextremen schon nach den blutigen Anschlägen von Paris 2015 und Nizza 2016 stark gemacht.

Le Pen, die den kompromisslosen Kampf gegen Terror und Islamismus als eines der zentralen Themen ihres Programms erkoren hat, versuchte gestern sofort, den Anschlag auf einer eiligst anberaumten Pressekonferenz für sich zu nutzen. „Der Krieg, der gegen uns geführt wird, ist ohne Gnade und ohne Atempause“, sagte sie. Der Anschlag auf den Champs-Élysées könnte sie noch stärker machen. Die Franzosen wählen im Zeichen des Terrors. Die beispiellose Serie islamistischer Anschläge, von der das Land seit Januar 2015 heimgesucht wird und der bereits 239 Menschen zum Opfer fielen, schlägt auf das Gemüt der Franzosen. Noch bis nach den Parlamentswahlen im Juni gilt der Ausnahmezustand, schwer bewaffnete Polizisten und Soldaten sichern Bahnhöfe, Flughäfen, Touristenattraktionen sowie öffentliche Einrichtungen. Und erst am Dienstag wurden in Marseille zwei Islamisten festgenommen, die noch vor diesem Sonntag ein Blutbad auf einer Wahlkampfveranstaltung anrichten wollten.

Doch die jüngsten Ereignisse machen einmal mehr die vielleicht größte Herausforderung deutlich, vor der sich die französische Gesellschaft gestellt sieht: die Integration der muslimischen Einwanderer aus Nord- und Schwarzafrika. Sie sind in den Vorstadtgettos sozial abgekoppelt. So ist ein neues Proletariat entstanden, der ein fruchtbarer Boden für die dschihadistische Propaganda ist. Nicht zufällig waren die meisten Attentäter der vergangenen 27 Monate französische Staatsbürger mit afrikanischen Wurzeln.

Die Nation ist durch Dauerkrisen gebeutelt

Doch Terror und bisher fehlgeschlagene Integration sind längst nicht die einzigen Sorgen der einst so stolzen „Grande Nation“. Tiefrot sind die Zahlen der Frankreich AG: Zehn Prozent Arbeitslosigkeit, 49 Milliarden Euro Außenhandelsdefizit und ein Schuldenberg, der auf den Rekordwert von 96 Prozent des Bruttoinlandsproduktes angestiegen ist. So offensichtlich ist das Schwächeln der seit 2008 von einer Dauerkrise gebeutelten Nation, dass die Menschen von Abstiegsängsten geplagt werden. Umfragen weisen unsere Nachbarn als das pessimistischste Volk der Welt aus.

Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy, François Hollande – keinem der letzten drei Präsidenten ist es gelungen, das Land nachhaltig zu reformieren. Dabei sind die Probleme seit Langem bekannt. Zu ihnen zählt nicht nur eine wuchernde Bürokratie (Frankreich leistet sich das größte Beamtenheer der westlichen Welt, jeder fünfte Arbeitnehmer gehört dem öffentlichen Dienst an), sondern auch die höchsten Sozialabgaben gepaart mit den großzügigsten Sozialleistungen Europas.

Die französische Mängelliste lässt sich leider fortsetzen, doch wo soll man anfangen? Beim Ausbildungssystem, welches eine Jugendarbeitslosigkeit von 24 Prozent produziert? Bei dem unflexiblen Arbeitsmarkt oder bei der 35-Stunden-Woche, die die Wettbewerbsfähigkeit der ohnehin überregulierten Unternehmen untergräbt? Oder bei der Steuerlast, die europaweit nur in Dänemark noch höher ausfällt?

Nach wie vor verfügt Frankreich zwar über Pfunde, mit denen es wuchern kann. Zu ihnen gehören vor allem eine gute Infrastruktur, eine boomende Tourismusbranche sowie einige sehr leistungsstarke Konzerne im Industrie– und Dienstleistungssektor. Doch das reicht schon lange nicht mehr, um seine grundlegenden Schwächen auszugleichen. Allein die Tatsache, dass in Frankreich immer mehr Industriearbeitsplätze abgebaut und ins Ausland verlagert werden (rund 650.000 Jobs in den letzten zwölf Jahren), macht das deutlich.

Von den elf Bewerbern um das höchste Amt im Staat wagen dennoch nur zwei – der konservative Kandidat François Fillon sowie der parteilose Macron – das Thema Strukturreformen anzusprechen. Die übrigen versprechen neue, nicht gegenfinanzierte Wohltaten – etwa das von dem Sozialisten Benoit Hamon propagierte bedingungslose Grundeinkommen für alle oder die sowohl von Le Pen als auch von dem Linksaußen, Jean-Luc Mélenchon, versprochenen Renten- und Mindestlohnerhöhungen.

Auch wenn Macron vorn liegt und Le Pen Aufwind bekommen könnte, gibt es keinen Favoriten. Keiner dürfte die im ersten Wahlgang erforderlichen 50 Prozent erreichen. Mindestens aber Macron, Le Pen, Fillon und Mélenchon wird zugetraut, sich für die Stichwahl am 7. Mai durchzusetzen. Eine unübersichtliche Lage, die beispiellos in der jüngeren Geschichte Frankreichs ist.