Paris.

Er redet ruhig, bestimmt und malt gerne große Linien in die Luft. Emmanuel Macron ist die Überraschung des französischen Präsidentschaftswahlkampfs: Erst 39 Jahre alt, keine der klassischen Parteien im Rücken – und doch liegt der unabhängige Kandidat in den Umfragen vorn. Im entscheidenden zweiten Wahlgang am 7. Mai würde er seine rechtsextreme Mitbewerberin Marine Le Pen deutlich besiegen, heißt es. Unsere Redaktion und die französische Zeitung „Ouest-France“ sprachen mit Macron in der Pariser Zentrale seiner Bewegung „En Marche“ („Vorwärts“).

Wie sind Ihre Drähte zu Kanzlerin Angela Merkel und zum SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz?

Emmanuel Macron: Durchaus herzlich. Die Kanzlerin hat mich zuletzt in Berlin als Präsidentschaftskandidat empfangen. Wir hatten ein sehr offenes Gespräch, und ich habe ihr meine Sicht der Dinge und mein Regierungsprogramm dargelegt. Martin Schulz habe ich schon oft getroffen, ich unterhalte sehr gute Beziehungen zu ihm.

Sie wollen der EU eine Frischzellenkur verpassen – mit Deutschland und Frankreich als Avantgarde. Wie soll das aussehen?

Wenn Frankreich und Deutschland nicht an einem Strang ziehen, geht es nicht voran. Das gilt ganz besonders für die Wirtschafts- und die Sicherheitspolitik.

Was erwarten Sie in der Wirtschaftspolitik von Berlin?

Deutschland erwartet vor allem, dass Frankreich endlich strukturelle Reformen einleitet. Solange wir die hinauszögern, können wir nicht auf das Vertrauen der Deutschen setzen, die wir in diesem Punkt bereits 2003 und 2007 enttäuscht haben. Anschließend wird Deutschland aber hoffentlich zu der Einsicht kommen, dass seine wirtschaftliche Stärke in der jetzigen Ausprägung nicht tragbar ist. Deutschland profitiert von dem Ungleichgewicht in der Eurozone und erzielt sehr hohe Handelsüberschüsse. Die sind weder für seine eigene Wirtschaft gut noch für die Wirtschaft der Eurozone. Hier muss ein Ausgleich geschaffen werden.

Ganz konkret: In welchen Bereichen wollen Sie mehr EU-Integration als bisher?

Die Union braucht eine Initiative zur Verstärkung der gemeinsamen Sicherheitspolitik. Es gilt insbesondere, die Schengen-Außengrenzen besser zu kon­trollieren. Zum Beispiel, indem wir die Zahl der gemeinsamen Grenzpolizisten um 5000 erhöhen. Und wir müssen innerhalb der Eurozone die Harmonisierung der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik anpacken. Ich setze auf eine Strategie, die diese Harmonisierung in den nächsten zehn Jahren schrittweise umsetzt. Außerdem schlage ich eine gemeinsame Investitionspolitik und ein gemeinsames Budget für die Eurozone vor. Das Ganze sollte von einem Eurozonen-Parlament demokratisch kontrolliert werden. Ausgeführt werden sollte es von einem Eurozonen-Wirtschafts- und Finanzminister.

Sie glauben im Ernst, dass es eine gemeinsame Wirtschaftsregierung geben kann, die die Bedürfnisse von Paris, Berlin und Athen unter einen Hut bringt?

Wir müssen uns in der Tat daran machen, unser Arbeitsrecht, unsere sozialen Mindeststandards und unsere Finanzpolitik anzugleichen. Mit der Gründung der Eurozone ist es uns gelungen, die Wechselkurse abzuschaffen. Wie viel Streit hatte es früher über Wechselkurse gegeben? Etwas Ähnliches müssen wir in der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik stemmen. Wir sollten zum Beispiel eine Art Korridor für Unternehmenssteuersätze in der Eurozone einrichten. Am Ende stünde ein wirklich gemeinsamer Markt.

In Osteuropa oder Österreich ist man von derlei Vorstößen alles andere als begeistert. Riskieren Sie damit nicht eine weitere Lähmung der EU?

Warum denn? In der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik können wir eine deutsch-französische Kooperation starten, die Italien und Spanien – ja selbst Großbritannien – eingliedert. Wir sollten uns nicht selbst blockieren. Wir sind heute in einer Logik der stillschweigenden Selbstdemontage gefangen. Die Länder der Eurozone haben es doch lange Zeit nicht gewagt, sich allein zusammenzusetzen, weil man weder die Briten noch die Polen vor den Kopf stoßen wollte. Nun wachen wir auf und müssen feststellen, dass sich die Polen radikalisiert haben und eine Regierung haben, die unsere Werte nicht teilt. Und die Briten haben sich von uns abgewandt. Wir sind schwächer als vor der Krise. Europa ist immer dann vorangekommen, wenn eine Avantgarde mutig die Initiative ergriffen hat und die Mitgliedsstaaten um sich scharte, die weiter gehen wollten.

Ihre Hauptkonkurrentin Marine Le Pen will, dass Frankreich die EU und die Eurozone verlässt. Sollte Le Pen gewinnen: Was würde das für Frankreich, was für Deutschland bedeuten?

Man muss das ganz klarsehen: Das wäre ein unmittelbares wirtschaftliches Desaster. Die Zinsen würden nach oben schießen, das Kapital würde das Land verlassen. Und das wäre der schnelle Zusammenbruch des europäischen Projekts, denn die europäische Konstruktion funktioniert nicht ohne Frankreich. Darüber hinaus wäre der Ausstieg aus dem Euro ein Sprung ins Ungewisse. Man darf nicht mit dem Geld der Franzosen, ihrem Gehalt und ihren Ersparnissen Roulette spielen. In jedem Fall wären die Mittelschicht und die bescheidensten Leute, die in der Summe am meisten konsumieren, am stärksten betroffen. Die Schulden des Staates würden ebenso explodieren wie die der Privathaushalte und der Unternehmen, die zum großen Teil von Ausländern gehalten werden. Und schließlich wäre ein Ausstieg aus dem Euro nur auf den ersten Blick eine Rückkehr zur Souveränität. Denn es ist genau andersherum: Vor der Einführung des Euro war der Franc instabil und der Deutschen Mark unterworfen. Das will ich weder für mein Land noch für Europa.

Frankreich hat eine Arbeitslosenrate von rund zehn Prozent. Wie wollen Sie die Beschäftigung wieder ankurbeln?

Als Präsident würde ich in den kommenden fünf Jahren 50 Milliarden Euro öffentliche Gelder investieren. 15 Milliarden davon sind vorgesehen, um eine Million Jugendliche und eine Million Arbeitslose ohne Qualifikation für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Das sind 15-mal mehr Mittel, als bisher für solche Fortbildungsmaßnahmen zur Verfügung stehen. Wir haben 1,5 Millionen Arbeitslose, die nicht qualifiziert genug sind, um eine Stelle zu finden. Deshalb müssen wir in die Kompetenzen dieser Menschen investieren oder ihnen eine Umschulung ermöglichen, damit sie sich neu orientieren können. Und natürlich will ich den Arbeitsmarkt endlich flexi­bler gestalten.

Auch der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder machte sich für einen flexibleren Arbeitsmarkt stark. Sind die Hartz-IV-Gesetze ein Modell für Frankreich?

Ich orientiere mich am deutschen Modell, indem ich dem Dialog der Sozialpartner mehr Gewicht zumesse. Aber was das Arbeitslosengeld betrifft, werde ich der deutschen Logik nicht folgen. Die französische Arbeitslosenversicherung wird durch die Sozialabgaben finanziert und von den Sozialpartnern verwaltet. Sie ist chronisch defizitär und außerdem ungerecht, weil sie zum Beispiel Selbstständige oder Landwirte ausklammert. Ich will hin zu einer durch Steuern finanzierten Arbeitslosenversicherung, die allen zugutekommt. Eine Senkung des Arbeitslosengeldes bedeutet das nicht, wohl aber die Senkung der Sozialabgaben und eine strengere Kontrolle. Jobsuchende werden ein ihren Qualifikationen entsprechendes Angebot nur einmal ablehnen dürfen. Spätestens das zweite müssen sie dann aber annehmen.

US-Präsident Donald Trump droht mit Einfuhrzöllen und Strafmaßnahmen gegen europäische Unternehmen. Sollte die EU mit gleicher Münze heimzahlen?

Ich halte nichts von Protektionismus, weil er eine Form von ökonomischem Nationalismus ist. Protektionismus führt zu einem Verlust an Leistungsfähigkeit und zu Konflikten, am Ende verlieren alle. Ich glaube nicht, dass Donald Trump eine solche Politik durchsetzen kann. Schon allein deshalb nicht, weil der amerikanische Konsument Güter kauft, die in der ganzen Welt hergestellt werden und nicht nur Waren „made in USA“.

Was halten Sie von Trumps Raketenangriff gegen eine syrische Luftwaffenbasis?

Der Chemiewaffeneinsatz in Syrien durfte nicht ohne Antwort bleiben. Deswegen waren die Vergeltungsmaßnahmen gegen das Assad-Regime meines Erachtens gerechtfertigt. Aber ich hätte mir eine Abstimmung mit den Alliierten gewünscht und einen Informationsaustausch.

Muss Assad weichen?

Ich denke, dass Assad gehen muss, aber ich bin wachsam. Unser schlimmster Feind und der erste Feind in der Region sind der „Islamische Staat“ (IS) und die übrigen terroristischen Gruppierungen. Ich will die Absetzung von Assad nicht zu einer Vorbedingung für eine Koalition gegen den IS und die Terroristen machen. Ein weiteres Risiko sind zerfallende Staaten. Vergessen wir nicht die Fehler, die im Irak und in Libyen gemacht wurden. Wir können Assad mit militärischen Mitteln aus dem Amt jagen. Aber wenn wir keine dauerhafte politische Lösung finden, die die Stabilität Syriens garantiert, spielen wir den Terrorgruppen in die Hände und bereiten unser Unglück von morgen vor.

Sollte sich Europa nach neuen Partnern umsehen, zum Beispiel China?

Nein. Europa muss seine strategische Partnerschaft mit Amerika aufrechterhalten. Vor allem was Verteidigung und Geheimdienstarbeit betrifft, sind unsere Interessen verknüpft. Unsere gemeinsame Geschichte ist stärker als Einzelpersonen. Wenden wir den USA also nicht den Rücken zu. Es mag Momente des Zanks geben. Aber ich glaube an die Kraft der Geschichte und an die uns verbindenden Werte. Weder Russland noch China oder eine andere Großmacht ist uns derart verbunden wie Amerika.