Berlin.

Adam Naber hat viele Flüchtlingsunterkünfte in ganz Deutschland besucht, manche waren in einem guten Zustand, oft waren sie außerhalb der Innenstädte, hin und wieder sah er schlechte hygienische Zustände – doch wenn man ihn nach einem Beispiel fragt, nennt er ein positives. „Ich habe eine Familie kennengelernt, die es nach Monaten geschafft hat, in eine eigene Wohnung zu ziehen.“ Deren Leben habe sich schlagartig verbessert, es gab plötzlich einen Kitaplatz für die Kinder, die deutschen Nachbarn haben bei kleineren Problemen sofort geholfen. „All das wäre nicht passiert, wenn sie in einem Heim geblieben wären.“ Die Mutter habe nach dem Gespräch zu ihm gesagt: „Uns geht es so gut hier, wir wären gern selber Kinder hier.“

In den vergangenen zwei Jahren waren etwa 350.000 Kinder und Jugendliche in Begleitung ihrer Eltern nach Deutschland gekommen, um hier Schutz vor Krieg und Gewalt oder eine bessere Zukunft zu suchen. Außerdem kümmern sich die Jugendämter aktuell um etwa 48.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

Naber vom Bundesfachverband unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ist Mitautor der „Studie zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Flüchtlingsunterkünften“, die gestern in Berlin vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, Unicef, vorgestellt wurde. Der Titel der Studie gibt dabei die Stoßrichtung und das Hauptpro­blem der Kinder an: „Kindheit im Wartezustand“. Tenor: Viele Flüchtlingskinder leiden in Deutschland darunter, dass sie lange Zeit in Sammelunterkünften mit vielen fremden Menschen auf engem Raum zusammenleben müssen.

Für die Studie befragte der Bundesfachverband im Auftrag von Unicef Deutschland rund 450 Mitarbeiter von Flüchtlingsunterkünften, einige Fachleute, sowie geflüchtete Familien. Die Autoren betonen in der Studie einerseits die große Leistung, die durch die Mitarbeiter häufig erbracht wird. „Wir haben es erreicht“, sagt Naber, „dass kein Kind hungern muss oder kein Dach über dem Kopf hat.“ Aber es gibt durchaus auch Fakten, die aufzeigen, wo es noch Probleme gibt.

Jedes zehnte Kind hat schon Gewalterfahrungen gemacht

Demnach gaben 22 Prozent der Asylsuchenden an, dass sie teils bis zu einem Jahr mit ihren Familien in den Massenunterkünften auf eine Weiterverteilung warteten. Das Gesetz sah ursprünglich vor, dass Geflüchtete nach sechs Monaten spätestens eine eigene Wohnung bekommen oder in eine Wohngemeinschaft umziehen. In den Sammelunterkünften aber könnten Kinder Zeugen oder selbst Opfer von Gewalt werden. Jedes zehnte Kind, so Naber, sei demnach schon Opfer von Gewalt geworden. Problematisch ist vor allem eine gemeinsame Unterbringung von Familien zusammen mit alleinstehenden Männern. Eine Nigerianerin berichtete den Autoren, sie habe das Gefühl, ihre siebenjährige Tochter „ständig beschützen zu müssen“, seitdem sie das Badezimmer mit drei jungen Männern teilen müssten. Eine andere Mutter berichtete von Übergriffen auf ihre Kinder. Nur rund ein Drittel der befragten Einrichtungen gaben an, Konzepte zum Schutz von Kindern zu haben, oft fehlten Aufenthaltsräume sowie strukturierte Lern- und Freizeitangebote für die Kinder zum gemeinsamen Spielen. Ein Viertel der Mitarbeiter nannte die Sanitäreinrichtungen in den Einrichtungen „bedenklich“.

Die Unterbringung in Sammelunterkünften stehe in vielen Fällen dem Zugang zu Kitas und der Durchsetzung der Schulpflicht im Weg. „Tristesse und Warten statt Integration und Lernen prägen den Alltag vieler Kinder“, sagte Christian Schneider von Unicef. Dies stelle auch für die Eltern ein Integrationshindernis dar, da Kinder eigentlich die Fähigkeit hätten, die deutsche Sprache besonders schnell zu erlernen und somit die Integration der gesamten Familie fördern könnten. Dabei wünschten sich geflüchtete Familien „nichts sehnlicher, als anzukommen und neu zu beginnen“. Die Unicef kritisiert zudem den Gesetzesentwurf zur Durchsetzung der Ausreisepflicht, der eine Ausweitung der Personengruppe vorsieht, die unbefristet zum Verbleib in Erstaufnahmeeinrichtungen verpflichtet werden könnte. Damit wäre nach der Einschätzung von Unicef einer großen Zahl von Kindern dauerhaft der Zugang zu Schulen und Integration verwehrt. Gerade für Kinder, die eine strapaziöse Fluchterfahrung hinter sich haben, sei aber ein stabiles, schützendes und förderndes Umfeld besonders wichtig.

„Gebrochenes Versprechen der Bundesregierung“

Obwohl sich die Unicef-Studie fast ausschließlich mit „begleiteten Kindern“, also solchen in Familien, beschäftigt, geht es auch um die Situation von unbegleitet geflüchteten Minderjährigen. Tobias Klaus vom Bundesverband sagt, dass besonders die Aussetzung des Familiennachzugs hier ein Problem für die Jugendlichen darstellt. „Es ist ein gebrochenes Versprechen der Regierung“, sagt er. „Es sollte eine Härtefallregelung geben für minderjährige Flüchtlinge, aber stattdessen wird es gerade schwieriger für sie, ihre Familien zusammenzuführen.“ So habe er von Fällen gehört, in denen den Jugendlichen einerseits zugesagt wurde, dass ihre Eltern kommen dürfen – allerdings nicht ihre Geschwister. „Damit schaffen wir weitere unbegleitete Minderjährige allerdings in einer noch viel unsichereren Region.“ Diese derzeitige Praxis hält er für rechtswidrig.

Christian Schneider von Unicef weist darauf hin, dass eine gute Starthilfe für diese Familien „eine der wichtigsten Investitionen für unsere Gesellschaft“ sei. „Kinder“, sagt Schneider, „sind nicht in erster Linie Asylbewerber, Migranten oder Flüchtlinge, sondern Kinder.“

Auch für geflüchtete Frauen ist die Wohnsituation nach ihrer Ankunft in Deutschland eines der größten Probleme. Zu diesem Schluss kommt eine weitere Studie, die in der Berliner Charité vorgestellt wurde. Ein Fünftel der mehr als 600 befragten Frauen berichtete von spezifischen Problemen – darunter fehlende Privatsphäre, sexuelle Übergriffe, schmutzige sanitäre Anlagen, Lärm und ein allgemein respektloses Klima.

Dass die Familien oft sehr lange in Gemeinschaftsunterkünften ausharren müssen, hat auch damit zu tun, dass viele Deutsche nicht an Flüchtlinge vermieten wollen. „Die Privaten sind dann eher zurückhaltend bei der Vermietung“, hatte Uwe Lübking vom Deutschen Städte- und Gemeindebund in einer Sitzung des Innenausschusses des Bundestages berichtet.