Berlin/Wiesbaden. Die Sicherheitsbehörden wollen die militante Islamisten-Szene schwächen und gehen intensiv gegen Terrorverdächtige vor

Noch vor Sonnenaufgang schlugen die Polizisten zu. Es war eine der größten Razzien gegen Islamisten in Deutschland, rund 1100 Beamte waren am Mittwochmorgen im Einsatz, 54 Objekte durchsuchten die Spezialkräfte in Hessen, Wohnungen, Büros, zwei Moscheen, vor allem in Frankfurt/Main. Auch in Berlin und Bayern liefen Aktionen der Polizei gegen Islamisten, es kam zu Festnahmen. Die wichtigsten Fragen zu einem Tag, an dem der Staat einen Erfolg im Kampf gegen Islamisten verbucht.

Warum schlugen die Polizisten
jetzt in Hessen zu?

Die Sicherheitsbehörden richten ihre Ermittlungen gegen 16 Beschuldigte im Alter zwischen 16 und 46 Jahren. Einer von ihnen – ein 36-jähriger Mann aus Tunesien – war das Hauptziel der Razzien. Er gilt als Kopf des pyramidenartig organisierten Islamisten-Netzwerks. Den Behörden in Deutschland ist er gut bekannt: Laut Staatsanwaltschaft war der Mann seit August 2015 als Anwerber und auch als Schleuser für die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) im Einsatz. Der 36-Jährige lebte bereits zwischen 2003 und 2013 in Deutschland. 2015 reiste er dann wieder als Asylbewerber ein. Wo er sich zwischen 2013 und 2015 aufhielt, ist unklar. Im März 2015 soll er an dem Anschlag auf das Bardo-Museum in Tunis beteiligt gewesen sein. Damals starben mehr als 20 Menschen. Bis September 2016 saß der Mann in Deutschland in Auslieferungshaft. Doch weil die verantwortlichen tunesischen Behörden die Auslieferungspapiere nicht nach Deutschland schickten, musste der Mann wieder freigelassen werden. Seit September wurde der 36-Jährige nach Angaben des hessischen Innenministers Peter Beuth (CDU) rund um die Uhr überwacht. Die Behörden führten ihn jedoch nicht als Gefährder. Nach der Verhaftung am Mittwochmorgen will Tunesien nun die Auslieferung des Mannes beantragen. Deshalb stehe man im Kontakt mit Interpol, heißt es aus Tunis.

Wie groß war die Gefahr eines
Terroranschlags in Deutschland?

Die Ermittler sind überzeugt, dass die Islamisten einen Terroranschlag verüben wollten. Ein konkretes Ziel gab es jedoch noch nicht, so die Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt. Die Anschlagspläne waren offenbar in einer frühen Phase. Bei den Durchsuchungen fanden die Ermittler weder Waffen noch Sprengstoff. Sichergestellt wurden eine große Menge Speichermedien, Handys und Tabletts, heißt es. Die breit angelegte Razzia passt in die Strategie der hessischen Sicherheitsbehörden: Seit November 2015 gab es immer wieder Schläge gegen die Islamisten-Szene. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) lobte den aktuellen Einsatz: „Das zeigt, dass die deutschen Sicherheitsbehörden wachsam sind und entschlossen zugreifen, wenn es geboten und notwendig ist.“ Die Durchsuchungen und Festnahmen seien in Verantwortung der hessischen Behörden erfolgt, die Bundesbehörden seien informiert worden, die Zusammenarbeit habe funktioniert. So kooperierten gestern auch Polizisten aus Nordrhein-Westfalen und Bayern. Die Bonner Polizei hat in Burgthann bei Nürnberg einen 31 Jahre alten Terrorverdächtigen festgenommen. Der beschuldigte Mann aus Bonn soll von Dezember 2013 bis Januar 2014 in Syrien Mitglied der radikal-islamischen Terrormiliz „Junud al-Sham“ (Soldaten Syriens) gewesen sein.

Was steckt hinter den Festnahmen
von gestern in Berlin?

In Berlin vollstreckten Beamte eines Spezialeinsatzkommandos am Dienstagabend Haftbefehle gegen drei Islamisten, die im Verdacht stehen, ihre Ausreise als IS-Kämpfer nach Syrien und Irak vorbereitet zu haben. Die 21, 31 und 45 Jahre alten Männer verkehrten in der als Dschihadisten-Treff bekannten Fussilet-Moschee im Stadtteil Moabit, in der auch der Attentäter vom Breitscheidplatz, Anis Amri, ein- und ausging. Mindestens zwei von ihnen sollen auch persönlich Kontakt zu Amri gehabt haben. Hinweise, dass sie in seine Anschlagsvorbereitungen eingeweiht waren, gibt es nach Informationen dieser Redaktion aber bisher nicht. Der 31 Jahre alte türkischstämmige Emrah C. soll der Verantwortliche des Moschee-Vereins gewesen sein. Auch der szenebekannte und ebenfalls verhaftete Soufiane A. soll Anis Amri gekannt haben. Emrah C. und der dritte Verhaftete, der 45 Jahre alte türkischstämmige Resul K., sollen zudem zwei weiteren Islamisten bei der Fahrt in den sogenannten Dschihad unterstützt haben. Die Berliner Senatsverwaltung für Inneres dürfte sich von der im Rahmen der Verhaftungen erfolgten Durchsuchungen auch belastendes Material für ein angestrebtes Verbot der Fussilet-Moschee erhoffen. Die Gebetsstätte gilt als Anlaufpunkt für Sympathisanten und Anhänger des IS. In den vergangenen Jahren waren mehrere ihrer Besucher nach Syrien und Irak gereist. Der einstige Moschee-Vorstand und ein weiteres Vereinsmitglied müssen sich als mutmaßliche Terror-Unterstützter zurzeit vor Gericht verantworten. Der einstige Imam wurde bereits als solcher verurteilt.

Welches Ziel verfolgen die
Sicherheitsbehörden mit den Razzien?

Mehrfach schlugen Polizei von Bund und Ländern, oftmals in Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz, in den vergangenen Wochen und Monaten gegen Islamisten zu: im November gegen das Netzwerk des IS-Predigers Abu Walaa in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, kurz danach gegen den „Lies!“-Verein von Islamist Abou-Nagie. Jetzt Hessen, Bayern, Berlin. Das Ziel der Behörden ist klar: Sie wollen den deutschen Islamisten-Netzwerken ihre Führungsfiguren nehmen – und die Szene auf diese Weise entscheidend schwächen. Zudem stehen die Polizei in Bund und Ländern unter Druck: Im Fall des Berlin-Attentäters Amri hatten sie heftige Kritik für ihr wenig entschlossenes Handeln einstecken müssen. Mit den Razzien wollen die Bundesländer harte Kante gegen Extremisten zeigen.

Wie reagiert die islamistische
Szene auf die Razzien?

Die Islamisten und IS-Sympathisanten in Deutschland agieren zunehmend nervös. Die Szene ist aufgeschreckt durch die Razzien, führende Mitglieder von radikalen Gruppen sitzen bereits in Haft. In Chats und sozialen Netzwerken warnen sie ihre „Geschwister“ vor weiteren Durchsuchungen, veröffentlichen Gebrauchsanweisungen, wie man sich bei einer Razzia zu verhalten habe und welche Maßnahmen die Polizei ergreifen dürfe. Ein IS-naher Kanal prahlt sogar damit, dass es einen „Maulwurf“ bei den Sicherheitsbehörden gebe, der die Szene mit Informationen über weitere bevorstehende Durchsuchungen warne.