Berlin. Holocaust-Gedenktag in diesem Jahr im Zeichen der Opfer des „Euthanasie“-Programms

Sebastian Urbanskis schwerer Atemzug ist über das Mikrofon und die Lautsprecher im Bundestag zu hören, dann liest er die grausamen Zeilen vor, die Ernst Putzki im September 1943 an seine „liebe Mutter“ geschrieben hatte. „Wir wurden nicht wegen der Flieger verlegt, sondern damit man uns in dieser wenig bevölkerten Gegend unauffällig verhungern lassen kann. Von den Warsteinern, die mit mir auf diese Siechenstation kamen, leben nur noch wenige. Die Menschen magern zum Skelett ab und sterben wie die Fliegen. Wöchentlich sterben rund 30 Personen.“ Putzki war in einer Anstalt für Menschen mit Behinderungen inhaftiert.

Jährlich findet am 27. Januar im Bundestag eine Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus statt. Anlass ist die Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945. In diesem Jahr stehen die Opfer der „Euthanasie“ im Mittelpunkt der Erinnerung. Die Deutschen töteten während der NS-Zeit in ganz Europa systematisch etwa 300.000 behinderte und kranke Menschen. Ernst Putzki wurde im Januar 1945 ermordet. Der Brief erreichte seine Mutter nie.

Im Bundestag verlas Schauspieler und Synchronsprecher Sebastian Urbanski den Brief. Ein bewegender Moment. Auch Urbanski hätte in der NS-Zeit wohl als „Lebensunwerter“ gegolten – der 38-Jährige hat das Down-Syndrom. Es war das erste Mal, dass im Bundestag ein Mensch mit geistiger Behinderung sprach.

Die Nationalsozialisten töteten massenhaft Patienten und Insassen von Heil- und Pflegeanstalten sowie von „rassisch“ und sozial unerwünschten Menschen. Der Sitz der Behörde für das Mordprogramm befand sich in einer Villa in der Berliner Tiergartenstraße 4, wo sich heute die Berliner Philharmonie befindet.

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) kritisierte, dass die Aufarbeitung dieser Morde lange Zeit nicht stattgefunden habe. Er forderte dazu auf, sich mit dem Schicksal der Opfer zu befassen. „Erst Einzelschicksale lassen erkennen, was unschuldigen Menschen angetan wurde.“

Auch in den Landtagen und in verschiedenen Städten Europas fanden anlässlich der Befreiung von Auschwitz Gedenkveranstaltungen statt. Am 27. Januar 1945 erreichten Soldaten der Roten Armee das Konzentrationslager und befreiten rund 7500 Häftlinge. Millionen Menschen wurden durch die Deutschen in ganz Europa ermordet – Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle und auch politische Gegner.

Auch in der Gedenkstätte ­Auschwitz-Birkenau ist am Freitag an die Befreiung des Vernichtungslagers vor 72 Jahren erinnert worden. 40 ehemalige Häftlinge legten vor dem Tor mit der berüchtigten Aufschrift „Arbeit macht frei“ Kränze nieder und zündeten Kerzen an. „Worte können das nicht wiedergeben, was hier geschehen ist“, erklärte die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo bei einer Gedenkfeier in der früheren „Zentralsauna“ des KZ. Der Raum diente der Desinfektion der ankommenden Häftlinge, danach wurden viele von ihnen in den Gaskammern ermordet.

Zu einem Politikum wurde die Gedenkstunde am Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, zu der der Thüringer Landtag geladen hatte. Thüringens AfD-Fraktionschef Björn Höcke war im Vorfeld ausgeschlossen worden. Hintergrund ist die umstrittene Forderung nach einer „180-Grad-Wende im Umgang mit der deutschen Vergangenheit“, die Höcke kürzlich in Dresden gefordert hatte. Die KZ-Gedenkstätte hat Höcke Hausverbot erteilt. Er wurde von einem Mitarbeiter bei der Zufahrt zur Gedenkveranstaltung gestoppt. Er händigte ihm das schriftliche Verbot aus. Höcke akzeptierte diese Entscheidung der Gedenkstätte und fuhr wieder ab.

Wie weit der Weg des Gedenkens in Deutschland noch ist, hat Shahak Shapira gezeigt. Der jüdische Satiriker und Buchautor hat vor einer Woche einen Blog ins Leben gerufen, bei dem er zwölf Fotos veröffentlichte, die er aus Instagram und Facebook geholt hatte. Darauf waren Menschen zu sehen, die sich am Berliner Holocaust-Mahnmal in lustige Posen werfen. „Ich springe über tote Juden“, hatte einer der Fotografen sein Foto kommentiert.

Shapira hat die Kommentare übernommen und etwas hinzugefügt: Wer mit dem Mauszeiger darüber fährt, sieht den Mann über Originalfotos von ausgemergelten Leichen von Auschwitz springen. Der Satiriker zieht nach 2,5 Millionen Besuchern auf der Seite eine positive Bilanz. „Ich habe tonnenweise großartige Rückmeldungen erhalten“, sagt er, „von Holocaust-Forschern und ehemaligen Mitarbeitern des Mahnmals, von Lehrern und auch von sehr bösen Menschen.“