Berlin.

Turbulente Woche für die SPD: Der Chef der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, erzählt, wie er den Rückzug von Parteichef Sigmar Gabriel erlebte – und was von Kanzlerkandidat Martin Schulz zu erwarten ist.

Herr Oppermann, wann haben eigentlich Sie erfahren, dass Sigmar Gabriel nicht Kanzlerkandidat der SPD werden will?

Thomas Oppermann: Das hat er mir in einem Telefonat am vergangenen Sonntagmorgen erläutert.

Ganz schön spät. Immerhin sind Sie SPD-Fraktionschef. Wie haben Sie es aufgenommen?

Sigmar Gabriel hat es sich über Monate hinweg nicht leicht gemacht und viele Gespräche geführt. Ein SPD-Vorsitzender muss selbstverständlich jederzeit als Kanzlerkandidat antreten können. Dazu war er bereit und fähig. Aber er hat sich natürlich gefragt, ob eine Kandidatur richtig wäre, wenn er in seinen persönlichen, mäßigen Umfragewerten eingemauert ist. Auch seine jüngsten politischen Leistungen – von der Rettung der Arbeitsplätze bei Kaiser’s Tengelmann über die Zustimmung der SPD zu Ceta bis zur Nominierung von Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsidenten-Kandidat der Koalition – haben daran nichts geändert. Da hat er für sich entschieden: Die SPD braucht einen neuen Impuls. Ich finde das in höchstem Maße verantwortungsvoll.

Hätten Sie sich gewünscht, dass er antritt?

Die Frage stellt sich nicht mehr.

Der Parteichef hat für diese Entscheidung lange Zeit gebraucht – so hat Martin Schulz viel Vorbereitungszeit verloren …

Martin Schulz hat jetzt acht Monate Zeit bis zur Bundestagswahl. Er wird jeden einzelnen Tag nutzen …

Die meisten Ihrer Parteifreunde haben nicht von Gabriel, sondern über einen Mediendienst im Internet erfahren, dass er als SPD-Chef aufhört. Wie kam das an?

Das ist nicht optimal gelaufen, das stimmt. Aber das ist Schnee von gestern. Entscheidend ist doch: Sigmar Gabriel hat seine eigenen Interessen zugunsten der SPD zurückgestellt. Das verdient allergrößten Respekt.

Aber es ist mehr als eine Fußnote, wenn sich der Vorsitzende in einem Interview selbst das Außenministerium zuspricht. Ohne dass er mit der Kanzlerin oder dem SPD-Vorstand darüber gesprochen hätte. Erzeugt so ein Vorgehen nicht Politikverdruss?

Sigmar Gabriel hat eine enorme internationale Erfahrung, er hat als Umwelt- und als Wirtschaftsminister auf EU-Ebene sehr viel bewegt, er kennt die internationalen Akteure als Vizekanzler, aber auch als Parteivorsitzender. Er bringt alle Voraussetzungen dafür mit, ein guter Außenminister zu werden.

Aber sind Ministerämter Wanderpokale, die man so weiterreicht?

Wir haben seit drei Jahren Kontinuität bei den SPD-Bundesministern. Nur weil der bisherige Außenminister zum Bundespräsidenten gewählt werden soll, mussten wir jetzt diese Position neu besetzen.

Der Kanzlerkandidat startet jetzt mit viel besseren Umfragewerten als Gabriel, der doch keinen schlechten Job gemacht hat. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Martin Schulz hat sein Amt als EU-Parlamentspräsident in einer sehr souveränen Art ausgeübt. Mit seiner leidenschaftlichen, klaren Sprache weckt er Emotionen und bringt die Dinge auf den Punkt. Entscheidend ist, dass er authentisch ist und auch viele Menschen anspricht, die eigentlich nicht mehr an die Politik glauben. Sein Lebensweg tut ein Übriges: Er ist in seinem Leben auch schon mal ganz unten gewesen. Er steht dafür, dass man dann auch wieder nach oben kommen kann, sogar bis an die Spitze. Er steht also dafür, was die SPD ausmacht: dass jeder eine Chance bekommt, aus seinem Leben etwas zu machen.

Bei allem Respekt vor der sozialdemokratischen Aufstiegserzählung: Martin Schulz hat weder Erfahrung in einer Regierung noch in der Innenpolitik. Kann man mit diesen Handicaps Kanzler werden?

Das sind doch keine Handicaps: Als EU-Parlamentspräsident hat er mit den 28 Regierungschefs der EU verhandelt, mit Erfolg. Aber er kennt eben die Politik nicht nur von ganz oben, sondern auch aus der Perspektive des Bürgermeisters der 40.000-Einwohner-Stadt Würselen. Er arbeitet hochprofessionell, hat trotzdem eine menschliche Ausstrahlung und weiß, wo den Menschen der Schuh drückt. Genau deshalb vertrauen ihm viele Menschen.

Dann sprechen wir mal über die Themen, die die Wähler bewegen: Wofür steht Ihr Kandidat in der Flüchtlingspolitik?

Wir wollen unseren humanitären Verpflichtungen genauso gerecht werden wie dem Bedarf der Wirtschaft an Fachkräften. Deshalb wollen wir einerseits eine Flüchtlingspolitik, bei der Schutz suchende Menschen mit Bleiberecht schnell integriert werden – und diejenigen, die kein Bleiberecht haben, auch schnell zurückgeführt werden. Andererseits wollen wir Asylverfahren von Einwanderung trennen: Wer keinen politischen Schutz sucht, sondern Arbeit und ein besseres Leben, dessen Zugang soll über ein Einwanderungsgesetz geregelt werden – so können wir den Zuzug von Fachkräften besser steuern. Ich will nicht die programmatische Rede von Martin Schulz vorwegnehmen, aber klar ist: Er will das Land sicherer und gerechter machen.

Wie wird er das Land sicherer machen?

Wir brauchen zum Beispiel eine härtere Gangart gegen gewaltbereite rechtsex­treme Gewalttäter und Salafisten: Die dürfen keine Toleranz erwarten, das muss ihnen absolut klar sein. Aber mit Repression allein können wir die Probleme nicht lösen. Mehr Sicherheit erreichen wir nur, wenn wir gleichzeitig viel stärker an der Prävention arbeiten. Wir dürfen zum Beispiel nicht zulassen, dass minderjährige unbegleitete Flüchtlinge ohne Ausbildungsplatz und Perspektive in den Dunstkreis salafistischer Moscheen kommen, dass sie unter den Einfluss von Drogendealern oder Hasspredigern geraten. Diese Jugendlichen brauchen wie jeder andere auch die Chance auf einen Platz in der Mitte der Gesellschaft. Das immunisiert gegen Hass und Gewalt stärker als alles andere. Die SPD bereitet deshalb gerade ein Präventionsprogramm vor, mit dem wir für mehr Stabilität sorgen wollen.

Bleiben wir bei der Sicherheit: Nach dem Terroranschlag von Berlin tun sich zwei SPD-geführte Landesregierungen schwer mit der Aufklärung von Fehlern. Was erwarten Sie von den Verantwortlichen?

Ich hoffe sehr, dass die Vorgänge um Amri gründlich und zügig aufgeklärt werden können. Das wollen die Innenminister aus Berlin und Nordrhein-Westfalen auch. Wir müssen dann danach weitere Schlussfolgerungen ziehen. Schon jetzt haben wir einige gesetzliche Maßnahmen vereinbart: Ausreisepflichtige, gewaltbereite Islamisten müssen schnell in Abschiebehaft genommen werden können und dürfen nicht mehr frei herumlaufen.

Wie schätzen Sie die Bedrohungslage ein? Wird Terror ein Thema im Wahlkampf?

Auch wenn im Fall Amri einiges schiefgelaufen zu sein scheint, muss man den Sicherheitsbehörden trotzdem ein großes Lob dafür aussprechen, dass sie viele Anschläge in Deutschland verhindern konnten. Wir müssen sie aber auch stärker dabei unterstützen, mit mehr Personal und besserer Sachausstattung. Perfekte Sicherheit kann es nicht geben. Aber es gibt die Verpflichtung des Staates, alles zum Schutz der Bürger zu tun.

Mit welcher Machtoption geht die SPD in den Wahlkampf? Wird mit Schulz Rot-Rot-Grün wahrscheinlicher?

Die Machtoptionen nach der Wahl sind völlig offen. Wir werden die erste Bundestagswahl erleben, bei der keine Partei vorher eine Koalitionsaussage macht. Zuerst entscheiden die Wähler. Danach sind wir bereit, mit allen im Bundestag vertretenen Parteien über Koalitionen zu reden, außer der AfD.

Was ist mit einer erneuten großen Koalition?

Die Koalition hat sehr gute und erfolgreiche Arbeit gemacht: starke Wirtschaft, mehr Rente, gesetzlicher Mindestlohn, Lohngerechtigkeit von Männern und Frauen, Begrenzung von Leiharbeit und Werkverträgen und vieles mehr. Nun scheint für die Union die Grenze erreicht, ab der sie sozialdemokratische Politik nicht mehr mitmachen will. Eine große Koalition darf auch keine Dauereinrichtung sein. Demokratie lebt vom Wechsel, wir wollen ins Kanzleramt wechseln.

Ist das nicht schwer: die eigenen Erfolge in der Koalition loben und gleichzeitig die Kanzlerin kritisieren? Wird das der Wähler verstehen?

Wir stehen zu unseren Erfolgen und werden zugleich deutlich sagen, warum mehr Gerechtigkeit in Deutschland mit CDU und CSU nicht möglich ist.

Welches nicht erreichte Ziel schmerzt am meisten?

Ach, da gibt es viele. Ein Beispiel: Menschen, die hart arbeiten, müssen höhere Steuern zahlen als Menschen, die bloß ihr Geld für sich arbeiten lassen. Das ist schwer verständlich, wir wollten es ändern, aber die Union hat das verhindert.

Schalten Sie in der Koalition ab Montag den Ton von Kooperation auf Konfrontation?

Sigmar Gabriel hat in seiner Abschiedsrede als Wirtschaftsminister etwas Wichtiges gesagt: Wir im Bundestag sind Wettbewerber, verfolgen unterschiedliche Ziele und streiten um den besten Weg. Aber wir sind keine Feinde. Feinde sind diejenigen, die die Grundlagen unserer Demokratie zerstören wollen. Wir werden das Land weiter gut regieren, aber den Streit um die besseren Konzepte für die Zukunft unseres Landes mit der Union verschärfen.