Strassburg.

Antonio Tajani ist der neue Präsident des Europa-Parlaments, weil er es geschafft hat, eigene Schwächen als Vorteil für andere zu verkaufen. „Ich glaube an Europa – aber wir brauchen den Wandel“, erklärte der Italiener am Dienstag im Straßburger Plenum. Dahinter steckt ein Versprechen, das vielen seiner Abgeordneten-Kollegen gefällt, namentlich nach den gemischten Erfahrungen mit dem Sozialdemokraten Martin Schulz, den der Christdemokrat und gebürtige Römer Tajani ablöst. Seine erfolgreiche Botschaft lautet: Ich bin das Gegenprogramm zu meinem Vorgänger.

Allerdings war es ein holpriger Weg zum Präsidentenamt: Erst im vierten Wahlgang setzte sich der 63-jährige Italiener am Abend durch - der Kandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) gewann die Stichwahl gegen den Sozialisten Gianni Pittella mit 351 Stimmen, Pittella erhielt 282 Stimmen. Die vier Wahlgänge waren notwendig geworden, weil sich sechs Bewerber gemeldet hatten. Mitentscheidend für Tajanis Erfolg war ein Wahlbündnis seiner EVP mit den Liberalen, die ihren Bewerber Guy Verhofstadt zurückzogen.

Tajani ist wie sein Vorgänger ein Freund des europäischen Projekts, aber er will diese Passion ganz anders praktizieren als Schulz. „Wir brauchen einen Präsidenten, keinen Premierminister. Ich unterstütze alle Abgeordneten und alle Fraktionen!“, rief er dem Plenum zu. Präsident aller Abgeordneten also. Wie soll das gehen? Tajani hat da konkrete Vorstellungen. Zum Beispiel für die Auftritte zum Beginn europäischer Gipfel. Da tritt traditionell der Parlamentspräsident vor die versammelten Staats- und Regierungschefs und tut … ja, was? „Wenn ich vor dem Europäischen Rat stehe, werde ich nicht meine Ideen ausbreiten“, sagt Tajani. „Sondern die der Mehrheit des Parlaments. Und zudem werde ich erklären, was eine Minderheit will, die die Sache anders sieht.“

Mit solchen Rücksichtnahmen hat Schulz sich nicht lange aufgehalten. Seine Operationsbasis war der Anspruch: Ich bin das Parlament! Das Hohe Haus steht hinter mir – und wenn das nicht hundertprozentig stimmt, ist es auch nicht schlimm, denn ich weiß, wo es lang gehen muss mit Europa. Gegenüber solchem Selbstbewusstsein, von Schulzens Kritikern geschmäht als Größenwahn und Vermischung eigener politischer Interessen mit denen des Parlaments, pflegt Tajani eine geradezu angestrengte Bescheidenheit.

„Ich habe kein Programm“, versicherte er am Dienstag, auch das soll ein Vorteil sein. Denn „mein Programm ist, was das Parlament beschließt.“ Er selbst nennt lediglich die Themen und Probleme, bei denen Beschlüsse fällig sind: Kampf gegen den Terrorismus, Migration, Klimawandel, digitale Agenda, Brexit, Arbeitsplätze. Und „gender“ - Gleichstellungspolitik. Im Kabinett des Präsidenten Tajani sollen genauso viele Frauen wie Männer sitzen, beispielsweise. Ein Akzent, der nicht fehlen darf, denn Tajani gilt als gesellschaftspolitisch stockkonservativ. Unvergessen, wenn auch 20 Jahre her, ist seine Einlassung, Kindern homosexueller Paare drohten „ernsthafte psychologische Probleme“. Auch als langjähriger Weggefährte des italienischen Ex-Premiers und Polit-Machos Silvio Berlusconi ist der Mann auf der linken Seite des Hauses ein Verdachtsfall. Als Berlusconi 1994 seine Partei Forza Italia gründete, war der frühere Luftwaffen-Offizier und Journalist Tajani mit von der Partie. Er diente Berlusconi als Pressesprecher. Von 1999 bis 2008 führte Tajani die Forza-Italia-Delegation im EU-Parlament. Eine zweite Vorbelastung ist seine Rolle als Brüsseler Transport- und Industriekommissar 2008-14. Stichwort „Dieselgate“ - seine Kritiker halten ihm vor, er habe tatenlos zugesehen, wie die Autobranche sich um die Vorgaben bei der Abgas-Entgiftung herummogelte.

Aber Tajani weiß, wie man Wahlen gewinnt. Bei der Abstimmung zum Parlamentspräsidium stach er 2014 sämtliche Bewerber für einen der 14 Vizeposten aus. Er wirkt eher bieder, als Redner ist er alles andere als brillant. Doch welches Geschick er nach 23 Jahren EU-Erfahrung entwickeln kann, deutete sich auch am Dienstag an. Unauffällig ließ er in seine kurze Ansprache einfließen, dass er beim Ausscheiden aus der Kommission auf eine halbe Million Euro Abfindung verzichtet habe. Auch sein erfolgreicher Einsatz als Industriekommissar gegen die Schließung einer Stoßdämpfer-Fabrik im spanischen Gijon blieb nicht unerwähnt und erntete Beifall. In Gijon haben sie eine Straße nach dem freundlichen Herrn aus Brüssel benannt, der sich so für die Arbeiter eingesetzt hat. Außerdem spricht er Spanisch. Auch wenn sich Angela Merkel und die anderen europäischen EVP-Granden vor den EU-Gipfeln zu einer Vorkonferenz treffen, ist Tajani zuverlässig zur Stelle.

Für Weber ist Tajanis Sieg eine Erleichterung. Dessen Nominierung durch die EVP galt als Schlappe des Fraktionschefs – Weber hatte erkennbar die irische Kollegin McGuinness vorgezogen, der jenseits des eigenen Lagers mehr Zugkraft zugetraut wurde. Dass er es nun geschafft hat, den für viele unverträglichen Kandidaten durchzupauken, dürfte ihm als beachtliche Leistung angerechnet werden. Womöglich sogar von Tajani selbst. Den Anspruch, im Parlament künftig die politische Führungskraft Nummer eins zu sein, kann der Italiener dem Deutschen jedenfalls kaum streitig machen.