Istanbul/Berlin.

Mittlerweile lässt sich die Sonne zumindest ab und zu am Himmel über Istanbul blicken. Auf den Straßen zaubert das milde Wetter wieder ein bisschen Normalität, nachdem ein Attentäter in der Silvesternacht im schicken Nachtclub „Reina“ 39 Menschen getötet hatte. Doch die Menschen in der Millionenmetropole sind längst wieder zur Tagesordnung übergegangen. Nur wenige kommen an den Tatort am Bosporus, um dort Blumen oder Kerzen niederzulegen.

Seit dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli, der 260 Menschen das Leben gekostet hatte, hat sich in der Türkei viel geändert – auch in Istanbul. Die Massenverhaftungen und die Suspendierung von Zehntausenden Beamten haben sich tief in die kollektive Psyche eingegraben. Es weht ein neuer, eisiger Wind durch das Land.

Polizei nahm acht Verdächtige fest – aber nicht den Täter

Die türkischen Behörden versuchten gestern zu demonstrieren, dass sie die Lage im Griff hatten. Die Polizei in Istanbul nahm acht Verdächtige fest. Der Todesschütze soll aber nicht darunter gewesen sein, meldete die Nachrichtenagentur DHA. Die Großfahndung nach dem Flüchtigen lief weiter. Montagabend veröffentlichten die türkischen Polizeibehörden laut der Nachrichtenagentur dpa ein Fahndungs-Foto, das den mutmaßlichen Attentäter zeigen soll. Es stammt von einem Handyvideo, das der Mann in Istanbul selbst gedreht haben soll. Der Zeitpunkt ist unklar.

Die Zeitung „Hürriyet Daily News“ berichtete unter Berufung auf Ermittler, der Angreifer habe mehr als 180 Kugeln aus sechs Magazinen abgefeuert. Augenzeugen hätten angegeben, er habe auf dem Boden liegenden Menschen gezielt in den Kopf geschossen. Er habe sich dann umgezogen und seine Waffe gereinigt. Der Mann habe dann inmitten der Panik den Club verlassen und sei mit einem Taxi vom Tatort weggefahren.

Wie das Auswärtige Amt am Montag mitteilte, stammen zwei der insgesamt 39 Todesopfer aus Bayern. Einer habe die deutsche sowie die türkische Staatsbürgerschaft gehabt, der andere nur die türkische. Dabei handele es sich um einen 28-Jährigen aus Landsberg und einen 25-Jährigen aus dem nahen Kaufering, bestätigten das Polizeipräsidium Oberbayern Nord und die Stadt Landsberg. Darüber hinaus seien drei Gäste des Nachtclubs, die aus Dortmund angereist waren, verletzt worden.

Am Montag bekannte sich die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) zu dem Anschlag. Die Tat sei von einem „heldenhaften Soldaten des Kalifats“ begangen worden, hieß es in dem offiziellen Kommuniqué. Dass sich die Dschihadisten direkt zu Attentaten in Europa oder der Türkei äußern, ist selten. Bereits am Sonntag hatte der IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi in einer Botschaft zu neuen Anschlägen in der Türkei aufgerufen.

Auf den Straßen von Istanbul ist davon wenig zu spüren. Weder über den Terror noch über die Regierung wollen die Menschen reden, schon gar nicht mit ausländischen Journalisten. Meist besteht die Antwort aus einem Schulterzucken oder einem lapidaren „Terror gibt es überall“. Das Amüsierviertel Ortaköy, wo der jüngste Anschlag stattgefunden hat, macht da keine Ausnahme. Hierher kommt man, um zu flanieren, etwas zu trinken oder die frische Luft zu genießen. Besonders an sonnigen Wochenenden ist der Stadtteil beliebt, um sich ein bisschen Urlaubsgefühl in den Istanbuler Alltag zu zaubern.

Aber die Idylle hat schon länger Risse. Nicht nur, weil auch hier aufgrund der mangelnden Touristen die Umsätze eingebrochen sind. Ein älterer Mann, der nicht weit vom „Reina“ entfernt gebackene Kartoffeln verkauft, gibt zu, dass er Angst hat. „Es kann einen überall treffen, wir sind nirgendwo mehr sicher“, fürchtet er. Der Besitzer eines Wasserpfeifen-Cafés ein paar Meter weiter sieht das anders. Er sagt: „Warum hatten die auch so wenig Sicherheitsleute am Eingang?“

Die türkischen Zeitungen „Hürriyet“ und „Karar“ schrieben unter Berufung auf anonyme Quellen, dass der IS-Attentäter aus Zentralasien komme, wahrscheinlich aus Usbekistan oder Kirgistan. Die russische Regierung warnte immer wieder, dass sich in den ehemaligen Sowjetrepubliken immer mehr IS-Zellen breitmachten. Denkfabriken wie das New Yorker Zentrum The Soufan Group“ schätzt die Gesamtzahl der IS-Mitglieder aus der ehemaligen UdSSR auf insgesamt 4700.

Die Türkei gerät seit Sommer 2015 verstärkt in das Fadenkreuz des Terrors – insbesondere von Islamisten und radikalen Kurden. Zum Teil liegt dies daran, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan das Land außen- wie innenpolitisch polarisiert hat. Er eröffnete einen Mehrfrontenkrieg: gegen den IS, gegen extremistische Kurden in der Türkei, in Syrien und im Irak sowie gegen innenpolitische Kritiker seines zunehmend autoritären Regierungsstils.

Lange Zeit hatte Erdogan IS-Kämpfern erlaubt, über die Türkei Waffen und Geld nach Syrien zu schmuggeln. Der Grund: Erdogan wollte die Opposition gegen seinen Erzfeind, Syriens Machthaber Baschar al-Assad, mit allen Mitteln stärken. Doch seit dem Anschlag auf kurdische Aktivisten im südostanatolischen Suruc am 20. Juli 2015, für den die Regierung den IS verantwortlich machte, wendete sich das Blatt. Türkische Truppen nahmen von da an auch Dschihadisten ins Visier. Nun scheint sich die frühere Toleranzpolitik gegenüber den Extremisten zu rächen. Nach Einschätzung verschiedener Experten befinden sich rund 10.000 IS-Schläfer in der Türkei.

Den Islamisten sind vor allem Oasen des westlichen Lebensstils wie Istanbul ein Dorn im Auge. Allerdings hat auch Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP die Rolle der Religion in der Gesellschaft immer weiter ausgebaut – der laizistischen Verfassung zum Trotz. So ließ die türkische Religionsbehörde Diyanet am 30. Dezember eine Predigt in allen großen Moscheen des Landes verlesen. Darin wurde scharfe Kritik an Silvesterpartys geübt: „Es ist bedenklich, dass die ersten Stunden des neuen Jahres mit zu anderen Kulturen und Welten gehörenden Neujahrsfeierlichkeiten zur Verschwendung missbraucht werden.“ Es sei unziemlich für einen Gläubigen, „illegitimes Benehmen und Verhalten“ zur Schau zu stellen. Ein Zusammenschluss aus Organisationen stellte gestern Strafanzeige gegen den Chef der Religionsbehörde, Mehmet Görmez. Die Freitagspredigt habe das Volk zu „Hass und Feindschaft“ aufgewiegelt, hieß es zur Begründung.

Mit Schuldzuweisungen ist man derzeit in der Türkei schnell bei der Hand. Dabei ist die Bilanz des Terrors in der Türkei tatsächlich dramatisch: 553 Soldaten und 303 Polizisten sind seit den Wahlen vom 7. Juni 2015 getötet worden. Dazu noch 593 Zivilisten. Zwar hat es im Land schon immer Anschläge gegeben, aber erstmals lässt sich die Bevölkerung dadurch spalten: Die Gräben zwischen Türken und Kurden werden mit jeder Verhaftung kurdischer Journalisten, Akademiker und Abgeordneter und mit jedem Anschlag kurdischer Terrororganisationen wie PKK und TAK tiefer.

Ebenso verschärft sich der Konflikt zwischen den westlich orientierten Bürgern – den sogenannten weißen Türken – und den religiös-konservativen Anhängern der AKP. Der Umgang mit dem Anschlag auf die Silvesterparty im „Reina“ macht diese Spaltung deutlich. Weihnachts-Deko zum Jahreswechsel hatte sich seit Jahren größter Beliebtheit erfreut. Aber nicht bei allen: Immer wieder wurden Menschen in Nikolauskostümen verprügelt. Ein aufblasbarer Weihnachtsmann wurde von einer Gruppe Istanbuler Studenten sogar symbolisch beschnitten und dann erstochen.