Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi verliert die Mehrheit im Parlament in Rom. Der 75-Jährige will zurücktreten - jedoch nicht sofort.

Rom. Endzeitstimmung in Rom: Regierungschef Silvio Berlusconi will zurücktreten, hat er Staatspräsident Giorgio Napolitano in einem langen Gespräch gestern am späten Abend im Quirinals-Palast zugesagt - jedoch nicht sofort. Zuerst will er die für Italien so notwendigen Haushalts- und Reformgesetze noch verabschieden, die er in Brüssel, Cannes und Rom versprochen hat. Der Prozess seines Rücktritts kann deshalb von zwölf Tagen bis zu einem Monat dauern.

Der dramatisch klingende Schritt hatte eine dramatische Vorgeschichte. Denn seit den frühen Abendstunden hatte Berlusconi keine Mehrheit mehr im Parlament. Die Abstimmung über den Rechenschaftsbericht in der Abgeordnetenkammer hatte er zwar gewonnen. 308 von 630 Abgeordneten stimmten dafür. Aber acht Stimmen fehlten für die Mehrheit. Gewonnen hat der Premier daher nur, weil sich die Opposition aus Verantwortung gegenüber dem Land enthalten hat. Es war eine kalkulierte und bittere Niederlage, die genau das taktische Ziel der Opposition war. Im Senat hat Berlusconi zwar immer noch eine Mehrheit. Doch gegen einen Rücktritt hatte er sich die ganze Zeit über gesperrt, dem Drängen von allen Seiten zum Trotz: aus Europa, von der Opposition, der Industrie - und am Schluss sogar von seinen Koalitionspartnern und aus der eigenen Partei.

Die Abstimmung im Parlament über den Rechenschaftsbericht zum abgelaufenen Haushalt der Regierung war weiß Gott nicht die erste Zitterpartie, die Silvio Berlusconi schon überstanden hat im Laufe seiner langen Karriere. Neu ist jetzt allerdings, dass mittlerweile jede Mitteilung aus der Gerüchteküche um das Datum eines eventuellen Rücktritts des italienischen Premiers von Kurssprüngen oder Stürzen an der Mailänder Börse begleitet wird.

Ciao, Silvio: Berlusconi wirft das Handtuch

Es ist also nicht mehr länger das kraftlose Gerede der Opposition, das den 75-jährigen Unternehmer am Ende seiner schwindelerregenden Politkarriere bedrängt, sondern der strenge Blick der Nordeuropäer und die scharfe Beobachtung Italiens durch die Märkte und Rating-Agenturen. Während die Risikoaufschläge für italienische Staatsanleihen in wenigen Stunden kräftig stiegen - von 6,4 am Montag kletterten die Zinsen gestern auf 6,74 Prozent -, reagierten die Finanzmärkte nach Aussichten auf einen politischen Neuanfang in Italien mit Erleichterung. So legte der Dow Jones an der Wall Street in New York um 0,84 Prozent zu.

Nach rasch dementierten Rücktrittsgerüchten am Montag hatte Berlusconi gestern früh noch verlauten lassen, dass er sich statt eines eigenmächtigen Abschieds einmal mehr dem Votum des Parlaments stellen werde und nur dort - auf demokratischem Weg - zu fallen bereit sei. "Wenn ich sterbe, dann in der Aula (des Parlaments)", wird er zitiert. Nach einer nächtlichen Besprechung mit seiner Familie und engen Mitarbeitern wollte er sich auch durch eine letzte Initiative Umberto Bossis nicht mehr irritieren lassen, seines wichtigsten Koalitionspartners von der Lega Nord, der ihn nun in einem genuschelten Interview über die Medien wissen ließ, er möge doch bitte zurücktreten, um Platz zu machen für Angelino Alfano, den jungen Generalsekretär der Berlusconi-Partei.

Das ganze Land schaute gestern gebannt auf das Parlament in diesen Schicksalsstunden. An sich wäre die Abstimmung in der italienischen Abgeordnetenkammer über den Rechenschaftsbericht zum Haushalt des Jahres 2010 ja eine reine Formsache gewesen, bei der - nach verschiedenen Überläufern - nun aber plötzlich 321 Stimmen für die Opposition und 308 Stimmen für die Regierung gezählt wurden. Damit war die Handlungsunfähigkeit der Regierung offensichtlich geworden, selbst wenn das Gesetz an sich passierte. Der Respekt nicht nur der Opposition, sondern auch seiner ehemaligen Vertrauensleute war Berlusconi schon vor der Abstimmung abhandengekommen.

Der Regierungschef sei ein "Arschgesicht" (testa di cazzo), war es etwa der Internetausgabe des "Corriere della Sera" unter Bezugnahme auf ein abgehörtes Telefonat Guido Crosettos, des Vize-Verteidigungsministers Italiens, zu entnehmen, dessen Haus zuletzt mit den Kokain-Eskapaden seines Chefs auf sich aufmerksam gemacht hatte. Jede Stunde, die Berlusconi mit seinem Rücktritt noch warte, mache die Lage für alle schlimmer, hat Crosetto den stellvertretenden Chef der Berlusconi-eigenen Zeitung in dem Telefonat auch noch wissen lassen.

Ein Aufstand der Günstlinge? Eine Regierung in der Auflösung? Das werden die Historiker beurteilen müssen. Im Moment ist der Joker im Spiel immer noch der alte Fuchs Berlusconi, und es fragt sich, welche Finten ihm am Ende doch noch einfallen, um den Kopf auch diesmal wieder aus der Schlinge zu ziehen. Und die historische Erfahrung schien auch für ihn zu sprechen, weil in der 60-jährigen Geschichte der italienischen Politik nur zweimal eine Regierung über ein Misstrauensvotum zu Fall kam - zweimal unter dem Premier Romano Prodi. Nun ist Berlusconi diesem Votum zuvorgekommen. Was das für Italien und Europa bedeutet und wie lange er noch im Zentrum der römischen Tragödie steht - das ist ungewiss.