Berlin .

Wer das Haus der Geschichte in Bonn besucht, stößt auf das Bild von der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages mit der Sowjetunion. Das ist jetzt 46 Jahre her und hält die Meisterleistung eines Politikers fest, um den es in den letzten Jahrzehnten ruhig geworden ist: Walter Scheel, der gestern im Alter von 97 Jahren in der Nähe von Freiburg gestorben ist.

Scheel war ein Wegbereiter, nicht allein als Außenminister und nicht nur der Ostpolitik. Er hat eine Ära geprägt. Der Historiker Arnulf Baring nannte ihn mal „Mr. Bundesrepublik“ – ein Titel, der heute in keinem Nachruf fehlen dürfte. Scheel war FDP-Vorsitzender, erster Entwicklungshilfeminister der Republik, Außenminister und Bundespräsident.

Fröhlich, humorvoll, lässig, den schönen Dingen zugetan

Eine Nelke im Knopfloch, ein Lächeln auf den Lippen, so hat man ihn in Erinnerung. Fröhlich, humorvoll, lässig, ein Kunstliebhaber, den schönen Dingen zugetan: teure Zigarren, exquisite Küche, Anzüge, Fernreisen; ein Porsche-Fahrer, Jäger, Golfer. Einmal ließ Scheel zum Dekorieren eines Empfangs in Moskau eine Floristin einfliegen.

Man hielt ihn für einen Rheinländer, wegen seiner unverwüstlichen Frohnatur – nicht das einzige Missverständnis. In Wahrheit stammt er aus dem Bergischen Land. Geboren wurde Scheel in den „einfachen Verhältnissen“ einer Handwerkerfamilie. Der Vater war Stellmacher in Solingen-Höhscheid.

Der Maßstab seines Denkens und Handelns sei sein „Streben nach Freiheit und Glück“ gewesen, lobte ihn Bundespräsident Horst Köhler zum 90. Geburtstag. Mit der Kombination passte er zu den Freien Demokraten, und umgekehrt war die FDP politisch übernahmereif, als er die große Bühne betrat.

Scheel hat die erste schwarz-gelbe Koalition scheitern lassen, nicht zuletzt wegen der Sektsteuer, was zu seinem späteren Ruf passt. Ohne ihn wäre der Sozialdemokrat Gustav Heinemann im März 1969 nicht Bundespräsident geworden. Ohne dessen spektakuläre Wahl wäre nicht das legendäre „Stück Machtwechsel“ gelungen – hin zur sozial-liberalen Koalition mit Willy Brandt. Und ohne sie wäre es wiederum nicht zur Ostpolitik gekommen, die man nicht allein mit dem Namen des SPD-Kanzlers verbinden darf, sondern auch mit dem seines Außenministers.

Im Januar 1968 wurde er in Freiburg zum Vorsitzenden der FDP (der er seit 1946 angehörte) gewählt. Dort, wo die Partei ihr „Freiburger Programm“ erarbeitete, mit dem sie sich zur sozialliberalen Partei wandelte. 2009 zog es Scheel, aus Berlin kommend, dorthin zurück. Genauer gesagt: nach Bad Krozingen, nahe der Grenze zur Schweiz. Dort lebte der zweifache Witwer mit seiner dritten Ehefrau Barbara.

Scheel war der erste deutsche Außenminister, der Israel (1971) besuchte, hat 1972 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu China vereinbart und zwei Jahre später die Aufnahme beider deutschen Staaten in die UN vorbereitet. Ein Wegbereiter.

Wer so viel Neues wagt, ist nicht nur risikofreudig, sondern auch zielstrebig, mit viel Fortune und noch mehr Härte gesegnet. Popularität erlangte Scheel 1973, als er für die Aktion Sorgenkind das Lied „Hoch auf dem gelben Wagen“ auf Schallplatte aufnahm. Bis Frühjahr 1974 wurde die Platte über 300.000-mal verkauft. Die Episode versperrte lange einen realistischen Blick auf Scheel. Denn nicht nur seine Fröhlichkeit war echt, sondern auch seine Härte und seine politische Weitsicht.

Er war als Bundespräsident aus Erfahrung gut. Viele haben sich korrigieren müssen. Nehmen wir zum Beispiel den Schriftsteller Günter Grass, der ihn für „ungeeignet“ hielt, als Scheel 1974 das Amt des Bundespräsidenten anstrebte – und ihn fünf Jahre später als „liberale Gegenkraft“ würdigte; ausersehen, „die Gesellschaft in eine neue Entwicklungsphase“ zu leiten. Der französische Politologe Alfred Grosser fand, Scheel habe die „Legende vom bösen Deutschen“ widerlegt.

Ein großer Instinktpolitiker und eine historische Figur

Er war das vierte Staatsoberhaupt und gerade weil er nicht ein Asket und strenger Intellektueller wie sein Vorgänger Heinemann war, hat Scheel auf seine Art die Kluft zwischen Volk und Volksvertretern abgebaut. Repräsentieren fiel ihm nicht schwer. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) sagte gestern über den verstorbenen FDP-Politiker: „Walter Scheel war ein Menschenfreund, ein glänzender Redner, weltgewandt, optimistisch, humorvoll und volksnah.“

Zu jung, mit 60 Jahren, hatte der evangelische Christ und Vater von vier Kindern – dreimal verheiratet – alle Höhen und Tiefen der Politik hinter sich gebracht und alles erreicht, was in realistischer Reichweite einer kleiner Partei wie der FDP lag. Scheel hat aber nicht nur das Leben in vollen Zügen genossen, er hatte auch das richtige Timing beim Abgang von der politischen Bühne. Er reizte als Bundespräsident nicht seine Chancen auf eine zweite Amtszeit aus und war schon als FDP-Chef freiwillig gegangen, ohne von den Parteifreunden aus dem Amt gejagt zu werden.

Das Lila-Laune-Bär-Image hat sich in der Spätphase verfestigt, in der Abendsonne seiner Karriere, als man den Bundespräsidenten a.D. auf Partys traf. Als die FDP einmal was Gutes für ihren Ehrenvorsitzenden (die Ehre hat er nie mit dem Vorsitz verwechselt) tun wollte, widmete sie ihm ein Golfturnier, den Walter-Scheel-Pokal. Und so ist im Laufe der Jahrzehnte etwas in Vergessenheit geraten, dass der Liberale nicht nur einer der großen Instinktpolitiker der Bundesrepublik war, sondern vor allem eine historische Figur.