Rio de Janeiro. Brutale Polizeieinsätze, Bandenkriege und Zwangsumsiedlungen – bei Rio de Janeiros Bevölkerung kommt keine Begeisterung auf

Vitor Santiago kann beim Gedanken an die Olympischen Spiele nur bitter lächeln. Für den 30-Jährigen verbindet sich die sportliche Großveranstaltung, die am Freitag in Rio de Janeiro beginnt, mit Schmerz, exzessiver Staatsgewalt, Ohnmacht und dem Ende seines Lebens, wie er es kannte. „Es war die Nacht vom 12. Februar 2015“, sagt er. „Da endete mein Leben in einem Checkpoint des Militärs.“ Santiago sitzt in einem schwarzen Rollstuhl, trägt ein schwarzes Shirt und eine schwarze Baseball-Cap und erzählt von jener Nacht, als er mit seinen Freunden in der Favela Maré nahe des Internationalen Flughafens von Rio im Auto in eine Kontrolle geriet.

2600 Menschen von Polizei oder Militär getötet

Polizei und Militär besetzten schon vor der Fußball-WM 2014 die Armensiedlung im Norden der Stadt. Anschließend blieben die Sicherheitskräfte einfach in dem problematischen Stadtteil, in dem 140.000 Menschen leben. „Panzer, Stacheldraht, Sandsäcke, so als gäbe es Krieg in unserer Favela“, sagt Santiago. So war es auch in jener Nacht. Die Militärs durchsuchen das Auto, lassen es aber unbehelligt. Aber als er und seine Freunde weiterfahren, eröffnen sie grundlos das Feuer. Schüsse treffen Santiago in Rücken und Bein. Heute ist er von der Hüfte an gelähmt und das linke Bein musste amputiert werden, weil die Soldaten großes Kaliber verwendeten und ein Schuss das Bein zerfetzte. Verantwortung hat der Staat für die Tat zwar übernommen, aber Hilfe gab es keine. „Mein Rollstuhl, mein Bett und selbst meine Windeln sind Spenden“.

Der Fall des jungen Mannes aus der Favela ist nur einer von vielen Tausend, in denen die Polizei und das Militär in Rio in den vergangenen Jahren mit Gewalt gegen die Bewohner der eigenen Stadt vorgehen. Es ist die Geschichte, die von der dunklen Seite der sportlichen Großveranstaltung in Rio erzählt, vom gescheiterten vor der WM ausgedachten Konzept der Friedenspolizei UPP in den Favelas und von der Rückkehr der Gewalt in die Armenviertel. Viele dieser meist an den Hügel klebenden Stadtviertel sind heute wieder in der Hand der Drogengangs, die sich täglich Schießereien untereinander oder mit den Sicherheitskräften liefern. Erst am Mittwoch wurden bei einer großangelegten Drogenrazzia mehrere Menschen verletzt – darunter Polizisten.

Seit Rio 2009 die Olympischen Sommerspiele zugesprochen bekam, sind nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) 2600 Menschen von Polizei oder Militär getötet worden. Und je näher die Olympischen Spiele rückten, desto größer sei die Gewalt geworden, sagt Renata Eder von der brasilianischen Sektion von AI. Zwischen April und Juni stieg die Zahl der Opfer von Polizeigewalt um 103 Prozent, verglichen mit dem Vorjahreszeitraum“. 124 Todesopfer in 90 Tagen. „Die Spiele sind für viele Menschen schon verloren, bevor sie begonnen haben“, sagt Eder. Hinzu kommen Zwangsumsiedlungen nahe dem Olympiapark. 22.000 Familien mussten ihre Häuser verlassen. „Es war die größte Zwangsumsiedlung in Rios Geschichte“, kritisiert Andrea Florence von Terre des Hommes.

Für Organisationen wie Amnesty, Terre des Hommes und Transparency International sind in Rio viele Chancen vertan worden, das Leben der Menschen zu verbessern. Die Organisationen fordern das Internationale Olympische Komitee (IOC) auf, künftig die Menschenrechte in das Zentrum der Gastgeber-Verträge zu stellen.

Die Gewalt ist vielleicht der längste Schatten, der auf die ersten Olympischen Spiele überhaupt in Südamerika fällt. Der andere ist die Unlust der Einwohner der „Cidade maravilhosa“, der wunderbaren Stadt, an der am Freitag beginnenden Megaveranstaltung: Ob alt, ob jung, ob rechts oder links: die Cariocas, die Einwohner von Rio, können den Spielen nur wenig abgewinnen.

Orlando Fernandes sitzt auf einer Bank an der Strandpromenade Copacabana und schüttelt den Kopf: „Ich liebe den Sport und mag Olympia, aber in Brasilien haben die Spiele nichts zu suchen.“ Das Land sei nicht reif, solch ein Event zu organisieren. Das sei etwas für entwickelte Staaten. „Ihr in Deutschland könnt das machen – oder in der Schweiz, aber wir haben hier ganz andere Notwendigkeiten“, schimpft der 70 Jahre alte Rentner. Zu viele Menschen seien ohne Krankenversicherung, ohne vernünftige Bildung. „Die Regierung hat zu viel Geld in zu viele falsche Ideen gesteckt“, sagt Fernandes. „Das Volk“ sei gegen die Spiele.

Experten wie Oliver Della Costa Stuenkel vom Thinktank „Stiftung Getúlio Vargas“ kann die Bedenken der Menschen verstehen. „Die Politiker sehen die Spiele als eine große Chance, ins Rampenlicht zu kommen“. Aber die Bevölkerung Rios habe das Gefühl, dass die umwälzenden Veränderungen in ihrer Stadt keinen spürbar positiven Effekt haben würden, ergänzt der Experte.

Einzig die Olympia-Touristen an der Copacabana scheinen sich zu amüsieren. Und während Japaner, Kolumbianer und auch deutsche Urlauber ihre Erinnerungsbilder vor Sehenswürdigkeiten machen, kreuzt im Hintergrund auf dem Wasser ein Zerstörer der brasilianischen Kriegsmarine.