Berlin.

Es ist wahrscheinlich das einzige Mal, dass sich Recep Tayyip Erdogan und Fethullah Gülen so nahe sind. 1995 sitzen sie bei der ersten Hochzeit des Fußballstars Hakan Sükür sogar an einem Tisch. Erdogan, in einer modisch gewagten roten Jacke, gibt als junger Bürgermeister Istanbuls den Standesbeamten. Gülen ist Trauzeuge. Als Erdogan den Freund Sükürs um sein Einverständnis bittet, spricht er Gülen als „Hocaefendimiz“ (etwa: unser ehrwürdiger Lehrer) an – mit jenem Ehrentitel also, den die Gülen-Anhänger ihrem geistigen Führer gegeben haben.

In Wahrheit aber sollen der Emporkömmling Erdogan und der Prediger Gülen wenig voneinander halten. Eines aber verbindet damals die beiden gläubigen Männer: Sie wollen die Türkei verändern, indem sie die Religion aus den Fesseln des strengen Laizismus befreien und zu einem Teil des Staates machen. Ihr gemeinsamer Gegner ist die säkulare Elite im Westen des Landes, die die türkische Republik noch bis ins neue Jahrtausend hinein in allen Bereichen dominiert. Und ihr gefährlichster Feind ist das türkische Militär.

Der Politiker Erdogan macht gleich mehrmals Bekanntschaft mit dem politischen Einfluss der Kemalisten, wie sich die Säkularen in Berufung auf Staatsgründer Atatürk nennen. Seine Partei, die islamische Refah Partisi, wird 1998 verboten, obwohl sie zuvor für kurze Zeit sogar den Premierminister gestellt hatte. Auch ihre Nachfolgerin, die Fazilet Partisi, wird 2001 aufgelöst. Erdogan und einige Mitstreiter gründen daraufhin die AKP. Was folgt, ist ein politischer Siegeszug. 2002 gewinnen sie erstmals die Parlamentswahlen. Nichts wollen sie nun mehr als die Macht der Kemalisten zu brechen.

Die Gruppierung ist zu einer Massenbewegung gewachsen

Dabei wird die Bewegung um Fethullah Gülen ihr wichtigster Partner. Gülen, der seit 1999 im Exil in den USA lebt, nachdem er in der Türkei wegen „anti-säkularer Aktivitäten“ angeklagt worden war, vertritt einen gemäßigten Islam. In seinem Namen gründen Anhänger Schulen, Stiftungen und Wohlfahrtseinrichtungen – auch über die Grenzen der Türkei hinaus. So ist die Gruppierung über Jahrzehnte zu einer Massenbewegung gewachsen. Alleine in der Türkei sollen mehrere Millionen Menschen mit Gülen verbunden sein. Und die AKP geht einen Deal mit den Gülenisten ein: Die Bewegung verschafft ihr eine Basis und Wählerstimmen, im Gegenzug bekommt sie politische Unterstützung, um ihr Netzwerk auszubauen.

Aber die Gülen-Bewegung hat zwei Gesichter: Da ist die unpolitische Außendarstellung, die sich in den Schulen und Stiftungen – auch in Deutschland – widerspiegelt. Auf der anderen Seite steht der Verdacht, dass Gülenisten in der Türkei eine geheime Agenda verfolgten, und nach Macht und Einfluss streben. Misstrauisch macht ein Video, das ein türkischer Fernsehsender Ende der 90er-Jahre enthüllte. Es zeigt eine Predigt Gülens, in der er seine
Anhänger aufruft, „euch in den Arterien des Systems zu bewegen, ohne dass
jemand von eurer Existenz Notiz nimmt, bis ihr alle Machtzentren erreicht habt.“ In internen E-Mails des US-Sicherheitsberatungsunternehmens Stratfor, die Wikileaks enthüllt hatte, werden 2010 Informanten aus der Bewegung zitiert: Sie berichten – entgegen der Selbstdarstellung der Bewegung als lose Struktur – von einer klaren Hierarchie und Befehlsstrukturen. An den Gülen-Schulen finde ein „Rekrutierungsprozess“ statt: Die treuesten Schüler würden gezielt in wichtigen Positionen im Staat platziert, die Talentiertesten an die Militärakademie geschickt.

Als der Journalist Ahmet Sik 2011 verhaftet wird, ruft er laut: „Wer sie berührt, wird verbrannt.“ Gemeint war die Gülen-Bewegung. Sik hatte an einem Buch gearbeitet, in dem er die Infiltrierung staatlicher Institutionen durch Gülenisten beschrieb. Wie viele Kollegen wurde Sik daraufhin wegen Beteiligung an der Ergenekon-Verschwörung angeklagt und verurteilt. Ergenekon stand für eine angebliche Konspiration zum Sturz der AKP-Regierung. Tatsächlich war es ein aberwitziger Prozess gegen Hunderte Angeklagte, darunter Generäle, Lehrer oder Juristen, von politisch links bis stramm nationalistisch. Nur eines hatten alle gemeinsam: Sie waren keine Freunde Erdogans – und Gegner der Gülen-Bewegung. Die Hexenjagd in juristischem Gewand war eine Machtdemonstration. Vorangetrieben von Gülen-Anhängern in Polizei und Staatsanwaltschaften, befeuert durch das Gülen-nahe Medienimperium, zu dem die größte türkische Tageszeitung, „Zaman“, gehörte.

Wahrscheinlich liegt in dieser Zeit die Ursache für den Bruch der AKP mit Gülen. Die Bewegung wurde Erdogan zu mächtig. Und bekannt ist auch, dass die Gülenisten sich gegen den Präsidenten wandten: Treibende Kraft hinter den Korruptionsermittlungen gegen AKP-Politiker und Erdogans Söhne 2013
sollen dieselben Staatsanwälte gewesen sein, die schon die angeblichen Ergenekon-Verschwörer verfolgten. Mit dem Unterschied freilich, dass das
Beweismaterial in diesem Fall erdrückend war.

Damals wie heute reagiert Erdogan mit einer „Säuberung“ der Behörden von Anhängern der Bewegung. Neu ist allerdings das Ausmaß.

Seit dem Putschversuch vor knapp zwei Wochen wurden in der Türkei nach Regierungsangaben mehr als 15.800 Menschen festgenommen, etwa 10.000 davon aus dem Militär. Mehr als 150 Generäle sind in Untersuchungshaft. Auch unliebsame Medien sind im Visier der Regierung. Insgesamt wurde die Schließung von drei Nachrichtenagenturen, 16 Fernsehsendern, 23 Radiostationen und 45 Zeitungen angeordnet. Und ein Ende der „Säuberungen“ ist nicht abzusehen.