Philadelphia.

„Im Frühling 1971 lernte ich ein Mädchen kennen. Sie hatte dicke blonde Haare, eine große Brille, trug kein Make-up und strahlte diese Stärke und Selbstbeherrschung aus, die mich magnetisch anzog.“

Es gibt wenige Redner auf der politischen Bühne, die es in einem Schlüsselmoment wagen würden, einem skeptischen Publikum mit einem Satz wie aus einem romantischen Groschenroman zu kommen. Dass Bill Clinton, 42. Präsident der USA, an diesem geschichtsträchtigen Abend genau diesen Einstieg wählt, um der zerrissenen Parteifamilie der Demokraten in einer sehr persönlichen Lebensgeschichte seine hoch umstrittene Ehefrau als Präsidentschaftskandidatin näherzubringen, sollte sich in der Wells Fargo Arena von Philadelphia als Glücksgriff erweisen. „Das war so ziemlich die beste kalkulierte Liebeserklärung, die ich je gehört habe“, sagt Emily Adams, eine Delegierte aus Ithaka nördlich von New York. Ihr T-Shirt und die ideologisch gefestigten Buttons weisen sie als eine der vielen Gegnerinnen Hillary Clintons aus, die bis Dienstag 18.35 Uhr fast alles dafür getan hätten, dass Bernie Sanders „für uns gegen den Halunken Donald Trump ins Rennen geht“.

Schon eine Minute später beginnt die neue Zeitrechnung. South Dakota ist beim „Roll Call“ an der Reihe, den man sich wie die Prozedur des Punkteverteilens beim Eurovision-Song-Contest vorstellen muss. Nach und nach geben die über 50 Delegationen der Bundesstaaten und Außenterritorien bekannt, welchen Kandidaten sie wollen.

Clinton nimmt das Publikum mit auf eine Zeitreise

Es sind die Gesandten aus dem Gas-gefrackten Norden, die Hillary Rodham Clinton über die entscheidende Hürde von 2382 Delegierten hieven. Am Ende beträgt ihr Vorsprung zur Linken-Ikone Sanders über 1000 Stimmen. Zum ersten Mal in der 240-jährigen Geschichte US-Amerikas hat eine der beiden großen Parteien eine Frau für das höchste Staatsamt nominiert. Im Publikum fließen Tränen der Rührung. „Hillary! Hillary!“-Sprechchöre vom Boden bis zum Dach. Gänsehaut-Sekunden. Es bleiben nicht die einzigen.

Dafür sorgt eine Parteitagsregie, die nach dem turbulenten ersten Tag, als es kurz nach Machtergreifung durch die vergrätzten Sanders-Sympathisanten riecht, eine ganz auf Frauen-Power setzende Tagesordnung aufzieht. Am Ende schmettert die schwarze Soul-Diva Alicia Keys in Anspielung an den Star des Abends live ihren Hit „Superwoman“ ins Hallenrund.

Vorher legen prominente Hillary-Fans wie die ehemalige Außenministerin Madeleine Albright, das komödiantische Universal-Talent Lena Dunham und Hollywoods Überschauspielerin Meryl Streep Zeugnis darüber ab, warum die Zeit reif sei für die erste Commanderin-Chief. „Sie hat 40 Jahre lang Gegenfeuer ertragen für ihren Kampf zugunsten von Kindern und Frauen“, ereifert sich die dreifache Oscar-Preisträgerin mit geballten Fäusten, „ich frage mich, woher sie die Charakterstärke und die Anmut dafür nimmt.“

Für das auf Stars allergisch reagierende Publikum an den Bildschirmen zu Hause hat das Team um Wahlkampf-Manager John Podesta den Aufritt der „Mütter der Bewegung“ inszeniert. Sieben Frauen, alle schwarz, alle Hinterbliebene von landesweit bekannten Polizei-Opfern wie Eric Garner oder Sandra Bland, alle Befürworterinnen schärferer Waffengesetze, berichten, wie Hillary Clinton ihnen in schwerer Zeit Mut zuspricht. Bis heute. „Sie hat uns immer zugehört. Gerade dann, wenn die Kamerascheinwerfer aus waren.“ Und das soll die Frau sein, die als unterkühlte Machtstrategin gilt, der fast 70 Prozent der Amerikaner in Umfragen bescheinigen, sie sei „nicht vertrauenswürdig“?

Gegen die Eiger-Nordwand des Misstrauens tritt kurz nach 22 Uhr ein sorgfältig frisierter, weißhaariger Mann auf die Bühne, der mit der Kraft des Wortes schon oft den Kurs der Dinge verändert und Gegner in Anhänger verwandelt hat: William Jefferson Clinton, Amerikas Präsident von 1993 bis 2001. Eine knappe Fußball-Halbzeit lang redet der vielleicht begnadetste Politiker seiner Generation ausnahmsweise nicht über sich, sondern über die Frau an seiner Seite, die ihm, wenn der Wähler es will, ab 20. Januar 2017 den dritten Frühling im Weißen Haus beschert. Dann, mit 70, als „First Husband“ oder, so genau wissen das die Funktionsetiketten-Erfinder in Washington noch nicht, als „First Gentleman“.

Beiläufig und doch intim nimmt er das Publikum mit auf eine Zeitreise, die vor 45 Jahren mit einem Spaziergang beginnt. „Und seitdem gehen, reden und lachen wir zusammen.“ In Miniaturen rekapituliert der Menschenfänger, der seit seiner Herzoperation auf veganes Essen umgestiegen und darüber asketisch schlank geworden ist, die Jahre an Hillarys Seite. Das Kennenlernen. Die gemeinsamen Träume. Drei Heiratsanträge. Das erste Haus. Die Geburt von Tochter Chelsea. Die Anfänge ihrer politischen Arbeit. Mit jeder Minute wird die „Lovestory“, wie es die Delegierte Gloria Goodwin sagt, „dichter und anrührender“. Dass Bill Clinton seine außerehelichen Kapriolen (Lewinsky!) ausspart, nur von „guten wie schlechte Zeiten, von Freude und Kummer“ erzählt, wird ihm verziehen.

Ob als Anwältin in Arkansas, bei ihrem Engagement für Kinder und Familien als First Lady im Weißen Haus oder später als Senatorin für den Bundesstaat New York: Seiner Frau sei immer daran gelegen gewesen, „das Leben möglichst vieler Menschen zu verbessern“. Nie finde sie sich mit dem Status quo ab. „Sie ist verdammt noch mal die beste Wegbereiterin des Wandels, der ich jemals begegnet bin“, ruft er mit bebender Stimme in den Saal. Ganze Delegierten-Reihen stehen auf. Frenetischer Beifall.

Bill Clinton nimmt die andere Seite, Donald Trump und die Republikaner, treffsicher über Umwege ins Visier: „Wenn ihr dieses Land liebt, hart arbeitet, Steuern bezahlt und Staatsbürger werden wollt, setzt auf eine vernünftige Einwanderungsreform, anstatt auf einen, der euch zurückschicken will. Wenn ihr Muslime seid, Amerika und die Freiheit liebt und den Terror hasst, bleibt hier und helft uns zu siegen. Wenn ihr enttäuschte junge Schwarze seid, baut mit uns an einer Zukunft, in der niemand Angst haben muss, aus dem Haus zu gehen.“ Spätestens jetzt hat er den Saal gewonnen. Ein Fahnenmeer gerät in Wallung, die Lautstärke erreicht Rockkonzert-Dezibel. Zweifler, die grübeln, wer Hillary Clinton wirklich ist, ob die böse Charakterisierung der Republikaner („betrügerische Hillary“) doch stimmt, werden mit einem Bill-Einzeiler abgefertigt: „Die eine Frau ist echt, die andere ist erfunden.“ Seine Wahlempfehlung ist klar. „Wählt sie, weil es im großartigsten Land der Erde immer um das Morgen geht. Eure Kinder und Enkel werden euch auf ewig dankbar sein.“

Schluss. Der Jubel übertönt die Live-Reporter. Bill Clinton, ganz rot vor Euphorie im Gesicht, tritt ab. Auf der Multimedialeinwand beginnt eine Diashow mit den Porträts aller Präsidenten seit George Washington. 45 Männer-Köpfe. Bis auf Obama alle weiß. Dann das sanft entspannte Gesicht von Hillary Clinton. Zugeschaltet per Satellit aus ihrem Haus in Chappaqua nördlich von New York City. „Wenn irgendwo da draußen kleine Mädchen sein sollten, die noch spät wach waren, um dieses zu sehen“, sagt die zweifache Großmutter, „dann lasst euch sagen: Ich werde möglicherweise als erste Frau Präsidentin, aber eine von euch wird es sicher.“ Emily Adams, die überzeugte Bernie-Sanders-Anhängerin, hört mit offen stehendem Mund zu. „Wow“, sagt sie, „wow.“

Die Daten und Prognosen der Grafiken zum US-Präsidentschaftswahlkampf stammen von Nate Silvers Datenjournalismus-Blog „Five Thirty Eight“, der seit 2013 dem US-Sender ESPN gehört. Silver arbeitet mit 20 Journalisten und Programmierern zusammen, die so viele Daten wie möglich sammeln und mit Hilfe von Algorithmen auswerten. Seine Wahlprognosen basieren nicht nur auf aktuellen Umfragen, sondern berücksichtigen alle bisherigen Werte, mit ihren Schwankungen über Jahrzehnte. Beim Präsidentschaftswahlkampf 2012 (Obama/Romney) lag er in allen Bundesstaaten mit seiner Prognose richtig. Bei den Wahlen 2008 (Obama/McCain) lag er nur in Indiana daneben. Für die Präsidentschaftswahl in diesem Jahr am 8. November sieht der Wahlforscher Hillary Clinton vor Donald Trump. Der dritte Kandidat, der Liberale Gary Johnson, der auch schon 2012 angetreten war, ist chancenlos.