Die Geflohenen, die es bis zu uns schaffen, sind meist Männer. Doch das Bild täuscht. Jeder zweite Flüchtling ist eine Frau.

Mindestens jeder zweite Flüchtling ist weiblich, bestätigt das Uno-Flüchtlingswerk UNHCR. Aber auf den Bildern, die im Sommer 2015 um die Welt gingen – Flüchtlingsmassen auf Booten im Mittelmeer, in den Bahnhöfen von Budapest, Wien, Hamburg, an mazedonischen Zäunen und in Zeltstädten – war die Mehrheit der Flüchtlinge männlich. Erst seit Beginn dieses Jahres kommen mehr Frauen und Kinder nach Europa. Aber Millionen von ihnen sitzen noch im Nahen Osten in Flüchtlingscamps fest. Was wird aus ihnen? Und wie wird für sie gesorgt?

Die Fernsehjournalistin und Autorin Maria von Welser und stellvertretende Vorsitzende von Unicef Deutschland, hat sich auf die Suche nach ihnen gemacht. In ihrem neuen Buch „Kein Schutz – nirgends“ berichtet sie von den Fluchtschicksalen zerrissener Familien, von Frauen, die auf sich allein gestellt sind und Unvorstellbares erlebt haben. Denn für Frauen ist die Flucht vor dem IS und dem Krieg noch kein Entkommen. Sie sind Übergriffen und Gewalt ausgesetzt, kämpfen täglich ums Überleben. Viele von ihnen schon seit Jahren.

„Die Frage nach den Frauen und Kindern hat mich umgetrieben“, sagt Maria von Welser beim Gespräch in Hamburg. „Unicef berichtet in seinen Rundbriefen von den schlimmen Lebensumständen in den jordanischen und libanesischen Flüchtlingscamps.“ Deshalb bereiste sie die Länder, die bisher die meisten Flüchtlinge beherbergen (Türkei, Jordanien, Libanon) und sprach mit Flüchtlingen auf Lesbos.

25.000 Euro für Bootseigner, Schlepper, korrupte Grenzer

In der Türkei traf sie Jesidinnen, die vor dem IS aus dem Nordirak in die Türkei geflohen sind – zu Fuß und mittellos; ihre Männer sind entweder getötet worden oder noch im Kampf. An der türkisch-syrischen Grenze sprach sie mit jungen Irakerinnen, die an der Seite der Peschmerga gegen den IS kämpfen wollen. Die Syrerin Miryam, die in einem Vorort von Damakus gelebt hatte, erzählte ihr von der abenteuerlichen, zwei Jahre dauernden Odyssee mit fünf Kindern, die über den Sudan nach Libyen und das Mittelmeer nach Europa führte. Heute lebt sie in einer Familienunterkunft in Hamburg. Von ihrem Mann, den Truppen des syrischen Machthabers Assad zwangsrekrutierten, hat sie keine Nachricht. „Die Flucht hat ihren gesamten Besitz gekostet“, sagt von Welser. An Schlepper, korrupte Grenzer und Bootsbesitzer flossen 25.000 Euro.

Eins der 25 Lager,
die das türkische
Militär an der
Grenze zu Syrien
aufgebaut hat
Eins der 25 Lager, die das türkische Militär an der Grenze zu Syrien aufgebaut hat © Peter Müller

Die Türkei hat 2,8 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, der Libanon (mit nur 4,5 Mio. Einwohnern) zwei Millionen, das kleine Jordanien (6,5 Mio. Einwohner) 1,6 Millionen. „Wenn Sie das in Prozente umrechnen, hätten wir in Deutschland 31 Mio Flüchtlinge aufnehmen müssen“, sagt von Welser. Als im Sommer 2015 der große Flüchtlingstreck syrischer Männer nach Europa begann, hatte das einen Grund: „Damals hat das Welternährungsprogramm seine monatlichen Zahlungen für Flüchtlinge von 26 Dollar pro Person auf 13 Dollar reduziert. Weil die reichen Industrieländer nichts mehr bezahlt haben – auch Deutschland nicht. Für die Flüchtlinge in den syrischen Nachbarländern war das ein Desaster. Sie haben all ihr Geld zusammengekratzt und es für die Väter und die Söhne ausgegeben, also für die Starken, denen man zutraute, dass sie es nach Europa schaffen.“ Frauen und Kinder hätten sich damals in einer Zwischenstation gewähnt, bis ihre Männer in Europa angekommen wären und sie nachholen würden. Aber im Januar kam das Asylpaket II, das den Familiennachzug erschwert. Dennoch – und gerade deshalb – machen sich immer mehr Frauen auf den Weg.

„Experten schätzen, dass allein in Libyen bis zu 700.000 Flüchtlinge auf eine Überfahrt warten, vor allem Frauen und Kinder.“ Maria von Welser kann sie verstehen: „Auf alle Fälle würden sie hier etwas zu essen haben, sie würden warme Kleidung bekommen, vor allem wären sie in Sicherheit. Das sind sie überall da nicht, wo die Lebensverhältnisse so aussichtslos sind und wo die Männer das Sagen haben, wie in den Camps, die ich besucht habe.“

Maria von Welser bei einer großen
Flüchtlingsfamilie im Bekaa-Tal.
Die Journalistin ist stellvertretende
Vorsitzende von Unicef Deutschland
Maria von Welser bei einer großen Flüchtlingsfamilie im Bekaa-Tal. Die Journalistin ist stellvertretende Vorsitzende von Unicef Deutschland © Maria von Welser

In Jordanien erlebte sie unter anderem das große Lager Saatari, wo rund 80.000 syrische Flüchtlinge leben – „relativ geordnet. Sie haben sich selbst sehr gut organisiert, eigene Geschäfte eröffnet, die Hauptstraße heißt ,Champs Elysees de Syria‘. Sie haben zum Teil ja noch Ersparnisse, nachdem sie in Syrien alles verkauft hatten.“ Da Saatari auch vom UNHCR und von Unicef versorgt wird, ist das Camp ein relativ sicherer Ort. Aber irgendwann geht den Menschen das Geld aus.

Die dramatischste Situation habe sie im Libanon vorgefunden. „Dort schafft es die Regierung nicht, den Flüchtlingen Zelte zu stellen. Sie will verhindern, dass es richtige Lager und Camps gibt“, schreibt von Welser in ihrem Buch. „Das Land hat große Angst, dass es so ausgehen könnte wie mit den palästinensischen Flüchtlingen, die nun seit Jahrzehnten im Land festsitzen.“ Allein im 120 Kilometer langen Bekaa-Tal gibt es 1278 „Informal Tented Settlements“ (ITS), selbstgebastelte Hüttendörfer aus Brettern, Plastikplanen und Pappen, die weder im Sommer die Hitze abhalten noch im Winter Kälte, Regen und Schnee. Andere Flüchtlinge zahlen im Monat 200 Dollar für einen einzigen Raum. Die Syrerin Amira floh vor vier Jahren aus dem beschossenen Aleppo, ihre drei Kinder kamen im Bekaa-Tal zur Welt, erzählte sie der deutschen Journalistin. Zugang zu Verhütungsmitteln gebe es hier kaum. Und ihre Kinder seien nicht korrekt registriert, die Geburtsurkunden aus dem Krankenhaus im Libanon gelten nicht als Belege. Amira müsste zurück nach Syrien, um für die Kinder syrische Pässe zu bekommen – absurd.

Amira erwartet in der provisorischen Behausung im Libanon
ihr erstes Kind. Zu Besuch sind Kinder von Freundinnen
Amira erwartet in der provisorischen Behausung im Libanon ihr erstes Kind. Zu Besuch sind Kinder von Freundinnen © Maria von Welser

Im Libanon schlagen sich viele Flüchtlinge mehr schlecht als recht als Land- und Hilfsarbeiter durch. „Schon die Kinder arbeiten bei Bauern, in den Fabriken“, sagt von Welser. „Das ist ein weiteres Drama: dass die rund 400.000 Flüchtlingskinder im Libanon nicht in die Schule gehen, keine Bildung bekommen. Auch in Syrien selbst sind zwei Drittel aller Schulen zerstört. Was macht man mit den Kindern, wenn sie 15 oder 16 sind und weder lesen noch schreiben können? Da bildet sich eine Lost Generation.“

Zwar gibt es auch in Jordanien und im Libanon Hilfsorganisationen, die geflüchtete Frauen und Kinder punktuell unterstützen. Aber überall stieß von Welser vor allem auf Wehrlosigkeit, die oft ausgenutzt wird. „Die Restfamilie ist ungeschützt, wenn der Vater fehlt“, sagt sie. „Dieser mangelnde Schutz ohne das Familienoberhaupt ist in diesen Ländern schwerwiegender als bei uns. Das sieht man auch an den Witwen, deren Männer im Krieg umgekommen sind oder in Assads Foltergefängnissen ermordet wurden, die dann im Libanon oder in Jordanien einen anderen Mann heiraten.“ Und weil der die Kinder seines Vorgängers nicht will, lässt die Frau sie bei den Großmüttern oder anderen mitgeflüchteten Verwandten in den Camps. „Ich habe auch viele Frauen getroffen, die sagten: Ich würde nie meine Kinder
im Stich lassen. Aber sie sind alle sehr viel wehrloser, als wir es uns hier vorstellen.“

Und auch das gehört zur Situation der Restfamilien: In Jordanien, aber auch im Libanon blüht mittlerweile der Frauenhandel. „Die Saudis fahren mit ihren SUVs durch die Wüste und geben bis zu 12.000 Dollar für eine hübsche Syrerin aus“, sagt von Welser. „Im Libanon hat man mir erzählt, dass Männer eine junge, folgsame syrische Zweitfrau schon für 200 Dollar bekommen. Frauen verkaufen sich selbst oder ihre Töchter. Wer werfe den ersten Stein? Die Familien müssen ja irgendwie durchkommen und überleben.“

Das Schicksal von Millionen scheint niemanden zu berühren

Selbst in der Türkei ist die Lage schwierig. Nur 20 Prozent der syrischen Flüchtlinge leben in rund 25 Camps in Nähe der nordirakischen und der syrischen Grenze. In den Lagern gehen fast alle Kinder zur Schule. 80 Prozent der Flüchtlinge haben sich jedoch notdürftige Unterkünfte auf dem Land oder in Städten gesucht, sagt von Welser, und für diese Kinder gibt es keine Bildung. Viele Eltern schicken sie zur Arbeit, um die Miete zahlen zu können, da Erwachsene keine Arbeitserlaubnis bekamen. Das hat die Türkei erst Anfang 2016 geändert. „In der Flüchtlingsfrage kommt der Türkei eine entscheidende Rolle zu“, schreibt von Welser. Mit sechs Milliarden Euro, die laut dem EU-Türkei-Abkommen nach Ankara fließen sollen, will Europa einen weiteren Zustrom von Flüchtlingen abbremsen. Aber von Welser ist skeptisch: „Es wird nicht funktionieren. Die Türkei ist der Meinung, sie habe mit 2,8 Millionen aufgenommenen Flüchtlingen genug getan, und eigentlich will sie sie jetzt loswerden.“

Maria von Welser,
Kein Schutz –
nirgends.
Paperback,
304 Seiten, mit
Bildteil, Ludwig
Verlag, 17,99 Euro
Maria von Welser, Kein Schutz – nirgends. Paperback, 304 Seiten, mit Bildteil, Ludwig Verlag, 17,99 Euro © Ludwig | Ludwig

Maria von Welser hat von ihren Reisen nicht nur viele Geschichten mitgebracht, die an die Nieren gehen. Sie stellt auch Fragen. Zum Beispiel, warum sich die reichen arabischen Ölländer vornehm zurückhalten und die Aufnahme auch nur eines kleinen Flüchtlingskontingents verweigern. Sie fragt auch, warum viele Europäer und Deutsche die Lage in den Hauptfluchtländern bisher ausblenden; sogar solche, die sich aktiv um die angekommenen Flüchtlinge kümmern. „Dass Millionen Menschen festsitzen zwischen den Kriegen und den Grenzen, das scheint niemanden zu berühren. Das geht mir sehr nahe“, sagt sie. „Schon als ich im März auf Lesbos war, waren dort ein Drittel der Flüchtlinge Frauen und Kinder. Viele sind dann in Idomeni gelandet. Schon das geht den Menschen nicht mehr nahe.“ Sie habe Angela Merkel bewundert für die Haltung, die die Kanzlerin trotz aller Anfeindungen aus dem eigenen Lager bisher bewies, sagt von Welser. Aber nichtsdestotrotz seien zur Zeit unverändert 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Die Hälfte von ihnen Frauen und Kinder.