Potsdam.

Wieder eine Prüfung für Europa, zum dritten Mal binnen wenigen Jahren. Erst die Euro-Krise, dann die Flüchtlinge und nun der Brexit. Lauter Stresstests für die EU – und eine Angela Merkel im Krisenmodus. Was für Willy Brandt die Ostpolitik und für Helmut Kohl die deutsche Einheit war, das ist für die Kanzlerin der Zusammenhalt Europas.

„Wir spüren, dass wir in einer Zeit schneller und gravierender Veränderungen leben“, sagte die Kanzlerin am Sonnabend zum Abschluss einer Klausur der Unionsparteien in Potsdam. Als ihre Aufgabe betrachtet sie es, die Menschen durch die stürmischen Zeiten zu lotsen. Heute berät sie sich im Kanzleramt mit den Staats- und Regierungschefs von Italien und Frankreich sowie mit EU-Ratspräsident Donald Tusk. Am Dienstag steht eine Regierungserklärung im Bundestag an. Danach fliegt sie zum EU-Sondergipfel.

Der britische Austritt aus der EU war auf der Tagung in Potsdam die dominierende Frage – und bleibt es darüber hinaus. Die Innenpolitik muss in den nächsten Monaten darob zurückstehen, auch die CSU. Der CDU-Schwesterpartei ist klar, dass sie nicht länger gegen die Weltpolitikerin ankämpfen darf. Merkel habe „unbestritten eine Führungsfunktion“, stellte CSU-Chef Horst Seehofer fest. Ein Parteistratege versicherte denn auch: „Wir segeln mit Merkel mit.“

Die Kanzlerin wirkte ernst, angespannt, abgekämpft, vielleicht auch genervt, weil die Annäherung der Unionsparteien im Vergleich zweitrangig anmutet – und objektiv mühsam bleibt. Die CSU ist betont eigenständig. Auch der Brexit hält Seehofer zum Beispiel nicht davon ab, anders als die CDU weiterhin für die Einführung von Volksbefragungen auf Bundesebene einzutreten.

Der Dissens der Unionsparteien über die Flüchtlingspolitik gerät zwar in den Hintergrund, aber die Annäherung ist ein monatelanger Prozess, der erst noch bevorsteht. Am Wochenende sind die Partner nicht ins Detail gegangen. Sie haben keine Beschlüsse getroffen, kein gemeinsames Wahlprogramm verabredet. Nicht mal ein Bekenntnis für eine erneute Kanzlerkandidatur Merkels 2017 war dem CSU-Chef zu entlocken. Darauf angesprochen, redete er sich mit einem Fußballvergleich heraus: Eine Europa-Meisterschaft sei auch nicht mit der Vorrunde beendet, sondern mit dem Finale. Soll heißen: Wir sind noch nicht so weit.

Die idyllische Halbinsel Hermannswerder in Potsdam lag – buchstäblich wie bildlich – im toten Winkel der Weltpolitik. Insgesamt 22 Mitglieder der Führung beider Parteien saßen zusammen und erörterten sechs Großthemen, allen voran die Europa-Politik, aber auch Migrationstrends und Umweltfragen. Es ging harmonisch zu. Der Trick: kein Blick zurück im Zorn, kein Wort zum Streit über die Flüchtlingsfrage, keine „Retrodebatte“, so ein Merkel-Vize.

Schon in der Euro-Krise hatte der CSU-Chef der Kanzlerin freie Hand gelassen. Das wird sich wiederholen, wenn Europa sich neu sortiert. Erst am Freitag hatte Merkel davor gewarnt, in dieser Situation schnelle, einfache Schlüsse zu ziehen. Hinter verschlossenen Türen hat Finanzminister Wolfgang Schäuble zu Beginn der Tagung in Potsdam definiert, was darunter zu verstehen ist: kein neuer Konvent, keine Verfassungsdebatte. „Ich nehme Fakten zur Kenntnis“, bemerkte Merkel trocken. Dazu gehört, dass die Briten die EU verlassen wollen. Von der Londoner Regierung erwartet sie Auskunft über das weitere Vorgehen. Merkels Interesse ist, die Beziehungen „eng und partnerschaftlich“ zu gestalten, schon im Interesse der Wirtschaft. Seehofer sieht das ähnlich. Großbritannien ist nach den USA der zweitgrößte Handelspartner Bayerns, noch vor Österreich und Frankreich.

Über die Frage des richtigen Umgangs mit Großbritannien war die Union uneinig. Die Europa-Politiker warben für eine klare Kante. Motto: „Wer raus ist, ist raus.“ Schon um Nachahmer abzuschrecken. Die Kanzlerin klang gnädiger: Der Brexit sei kein Grund, bei den Verhandlungen „besonders garstig zu sein“. Merkel will in Ruhe, sachlich verhandeln, ohne sich schnell festzulegen. Sie kennt die Psychologie von Extremsituationen: Auf die anfänglich hektische, hysterische Debatte folgt die allgemeine Erschöpfung – erst dann ist der Moment gekommen, die Karten aufzudecken.