Verdun.

Die Bundeskanzlerin traf mit Verspätung ein, doch das konnte ihr aufgrund des miserablen Wetters in Lothringen niemand übel nehmen. Auch Frankreichs Präsident François Hollande tat das nicht, der Angela Merkel bei der Begrüßung persönlich einen schützenden Regenschirm über den Kopf hielt. Als präsidialer Schirmträger diente Hollande seinem Ehrengast kurz darauf gleich noch einmal auf dem deutschen Soldatenfriedhof Consenvoye. Dort legten die beiden Politiker einen Kranz für die 12.000 Soldaten nieder, die dort ihre letzte Ruhestätte fanden.

Hollande: Die Kräfte der Abschottung sind wieder am Werk

Es war der erste Akt in einer dichten Zeremonienabfolge, mit dem die einstigen Kriegsgegner Deutschland und Frankreich am gestrigen Sonntag des 100. Jahrestags der Schlacht von Verdun gedachten. Der mörderische Waffengang gilt für viele als Symbol für den Wahnsinn des Krieges. 300 Tage dauerte das „Große Sterben“ 1926 in diesem brutalen Stellungskrieg, der 800.000 Tote und Verwundete forderte.

Der Name Verdun stehe „sowohl für unfassbare Grausamkeit und die Sinnlosigkeit des Krieges als auch für die Lehren daraus und die deutsch-französische Versöhnung“, erklärte Angela Merkel im Rathaus der nordostfranzösischen Stadt und setzte hinzu: „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann auch Lehren aus ihr ziehen und dadurch eine bessere Zukunft gestalten.“ Und: „Hier ist die Geschichte beklemmend nah. Verdun lässt uns nicht los. Verdun kann und darf uns nicht loslassen.“

Was das genau bedeutet, machte die Bundeskanzlerin bei einer gemeinsamen Gedenkfeier mit Hollande klar. „Rein nationalstaatliches Denken und Handeln würden uns zurückwerfen“, betonte Merkel. „Das gilt für die Bewältigung der europäischen Staatsschuldenkrise und für den Umgang mit den vielen Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, wie auch für alle großen Herausforderungen unserer Zeit.“ Präsident Hollande sekundierte auf der Feier: „Die Kräfte der Spaltung, der Abriegelung, der Abschottung sind wieder am Werk.“

Der Hamburger Bürgermeister und deutsch-französische Kulturbevollmächtige Olaf Scholz sagte: „Aus einstigen Gegnern, die sich früher erbittert bekämpft haben, sind schon lange Freunde geworden. Die gemeinsame Gedenkfeier ist ein eindrucksvolles Zeichen für die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich.“

Es war ein flammender Appell für ein einigeres Europa, um das es in diesen Tagen nicht gut bestellt ist. Bei einem Arbeitsessen in der Präfektur von Verdun machten Merkel und Hollande dies deutlich. Zwar befürchtet derzeit niemand, dass es zu einem neuen Weltkrieg auf dem Kontinent kommen könnte. Doch die allgegenwärtige EU-Malaise warf ihre Schatten auf die Gespräche. Es ging um die Flüchtlingskrise, die Gefahr eines Brexits, den wachsenden Rechtspopulismus und die sich vor allem in Osteuropa ausbreitenden autoritären Regierungen.

Keine Frage, die EU droht in eine Phase höchster Instabilität abzugleiten. Für Merkel und Hollande ist dies eine Mahnung der „Hölle von Verdun“, wie der Krieg vor 100 Jahren genannt wurde: Europa braucht mehr Zusammenhalt. Die deutsch-französische Aussöhnung wurde durch den Ausgleich mit den früheren „Erbfeinden“ möglich. Dazu zählt auch der EU-Integrationsprozess. Ein Gedanke, der derzeit nicht überall Anhänger hat. Ähnlich sahen dies die EU-Granden, die an dem Arbeitsessen teilnahmen: der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, der Chef der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, sowie der Präsident des Europäischen Rats, Donald Tusk.

Schlöndorff inszenierte einen Totentanz auf dem Gräberfeld

Es regnete am Sonntagnachmittag nicht nur, es schüttete stundenlang. Der aufgeweichte Boden verwandelte sich in Schlamm, durch den die Teilnehmer stapften oder rutschten, sobald sie aus ihren Fahrzeugen stiegen.

Der Schlamm von Verdun ist legendär. Bereits in der Schlacht vor 100 Jahren waren deutsche und französische Soldaten in der aufgeweichten Erde versunken. Der Schlamm war so berüchtigt, dass er im Mémorial der Stadt unter Plexiglas verewigt wurde. Er gehörte zu den schlimmsten Geißeln der Kämpfenden. Über ihn wurde in den Feldpostbriefen genauso nachhaltig geklagt wie über den Gestank, die Krankheiten, die Nässe, das Giftgas oder das ohrenbetäubende Artilleriefeuer.

Spätestens am Nachmittag wurde deutlich, dass Bundeskanzlerin und Präsident den Akzent am Sonntag weniger auf die Aussöhnung zwischen Deutschen und Franzosen legten. Sie ist inzwischen Alltag. Die Sympathie, ja die Freundschaft, die die Nachbarn am Rhein füreinander hegen, ist längst tief genug, um selbst von politischen Spannungen zwischen Elysée-Palast und Kanzleramt nicht überschattet zu werden. Es geht heute vielmehr um den Zusammenhalt Europas, um das gemeinsame Ziel der Gemeinschaft. Auf dem Spiel steht die Solidarität der Mitgliedstaaten, um die es gerade in der Flüchtlingskrise nicht gut bestellt ist. Auch zwischen Paris und Berlin knirscht es in dieser Frage gelegentlich.

Am Sonntag schritten Merkel und Hollande zur Einweihung des renovierten Mémorials von Verdun und enthüllten eine Gedenktafel. Deren Botschaft wäre vor 32 Jahren keineswegs überall auf Verständnis gestoßen: „Deutsche wie Franzosen wünschen sich, dass ihr Opfer nicht in Vergessenheit gerät. Lieber Besucher, verstehe. Und erinnere Dich dieser gemeinsamen Geschichte.“ Die Dauerausstellung des Mémorials, zuvor eine rein nationale Denkstätte zur Glorifizierung der „heroischen Abwehrschlacht von Verdun“, wurde umgestaltet. Nun präsentiert sie dem Besucher auch den deutschen Blick auf das Grauen des Schlachtfelds von Verdun.

Abschließend besuchten zwar auch Merkel und Hollande das Beinhaus von Douaumont, wo die Knochenreste von 130.000 nicht identifizierten französischen und deutschen Soldaten liegen. Doch sie nahmen dort an einer vom deutschen Regisseur Volker Schlöndorff „ohne Pomp und Militär“ inszenierten Choreografie teil, bei der 3400 Jugendliche aus beiden Ländern mitmachten, begleitet von rhythmischen Trommelwirbeln, auf dem Gräberfeld einen wilden Totentanz aufführten.