Brüssel.

Als Politiker und Kommentatoren vor Weihnachten die saisonüblichen Ausblicke auf das Folgejahr unternahmen, war auch viel vom bedrohlichen Vormarsch des Rechtspopulismus die Rede. Und von Terminen, auf die man in diesem Zusammenhang achten müsse: das Brexit-Referendum über den möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU, die vermutlich unvermeidlichen Neuwahlen nach der Regierungskrise in Spanien, das Ukraine-Referendum in den Niederlanden, der Vorlauf zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Frankreich 2017. Eine anstehende Entscheidung hatte kaum jemand auf dem Schirm: Dass die Österreicher im Frühjahr über ihr nächstes Staatsoberhaupt bestimmen würden, schien unspektakulär. Ein Routinevorgang im Protokollbereich von Politik. So kann man sich irren.

Fünf Monate und zwei Wahlgänge später ist die Konkurrenz, wer künftiger Hausherr der Wiener Hofburg sein soll, zur europäischen Schicksalsfrage geworden. Und so viel war aus Sicht der maßgeblichen EU-Verantwortlichen in Brüssel schon vor der Entscheidung im Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden Kandidaten sicher: Zwar wäre ein Sieg des EU-Verächters Norbert Hofer, Bewerber für die rechtsdrehende FPÖ, der schlimmste anzunehmende Fall. Aber auch der Erfolg des bekennenden Pro-Europäers Alexander Van der Bellen, vormals Chef der österreichischen Grünen, kann den bereits eingetretenen Schaden nicht reparieren.

In den ersten Brüsseler Reaktionen überwog die Erleichterung, dass Van der Bellen geschafft hat, was ihm die wenigsten zugetraut hatten: als Hofer-Verhinderer so viele Wähler jenseits seiner Klientel zur Stimmabgabe zu bewegen, dass der Rückstand von fast 14 Prozentpunkten aus dem ersten Wahlgang nicht nur ausgeglichen, sondern in einen Vorsprung umgewandelt werden konnte. Doch gleich auf den Stoßseufzer folgte die bange Einsicht: Ein glückliches Ende ist das nicht. Beim EU-Außenministertreffen in Brüssel sprach Belgiens Didier Reynders für zahlreiche Kollegen: „Es ist besorgniserregend!“ EU-Währungskommissar Pierre Moscovici pflichtete bei: Das Vordringen der Rechten in Europa sei „sehr beunruhigend“.

Da sind zunächst die Zahlen selbst. Sie sprechen, unbeschadet der letztlich ausschlaggebenden Zehntelprozente, aus europäischer Sicht eine unangenehm klare Sprache: Auch in einer zugespitzten Entscheidung und trotz vergleichsweise starker Mobilisierung der Trägen und weniger Interessierten war die Hälfte der österreichischen Wahlbürger zu einem Hochrisikoakt bereit. Sie fand nichts dabei, die Geschicke des Landes einer Partei anzuvertrauen, der beim Stichwort Europa vor allem einfällt, dass Austria Vorrang haben und ein Zentralstaat EU verhindert werden muss. Hofer selbst verhöhnt die EU gern als „Schulden- und Haftungsunion“. Die vormaligen Volksparteien SPÖ und ÖVP sind hingegen schon seit dem ersten Wahlgang im April auf die Rolle von Statisten reduziert. Natürlich ist es ein Unterschied, dass Hofer die tatsächlichen Handlungsbefugnisse eines Präsidenten nicht hat und es nur fast geschafft hätte. Als Staatsoberhaupt hätte er die Regierung entlassen und Neuwahlen ansetzen können, was nach dem Stand der Umfragen mit ziemlicher Sicherheit seine FPÖ an die Macht brächte. Und er hätte auf EU-Gipfeln in Erscheinung treten können, ein Spielfeld, das österreichische Präsidenten bislang stets dem Kanzler überlassen haben. Auch wenn der FPÖ-Kandidat um Haaresbreite sein Ziel verfehlt hat, hat er seine Bewerbung zu einem massiven Misstrauensvotum gemacht. Das galt zwar in erster Linie den scheinbar unablösbaren Machtinhabern der Sozial- und Christdemokratie, zieht aber zugleich deren Europapolitik in Mitleidenschaft. Sie zählt nunmehr auch in der Alpenrepublik zu den verflossenen Selbstverständlichkeiten. Dort stehen nach der jüngsten Eurobarometer-Erhebung gerade noch 26 Prozent der Bürger vertrauensvoll hinter der EU. Wenn nicht im Sinne der realen Machtausübung, so doch im Sinn der überwiegenden Stimmung ist Österreich jetzt dorthin unterwegs, wo die Nachbarn Polen und Ungarn schon Zeit sind: in die national befreite Zone, wo die Europa-Skepsis regiert.

Zugleich ist das dramatische Ringen um den Schlüssel zur Hofburg für die EU eine peinliche Erinnerung an eigenes Versagen. Die österreichische Hauptstadt ist der Schauplatz, an dem die EU-Partner erstmals eine rote Linie zogen, die besagen sollte: Bis hierher und nicht weiter. Die FPÖ, damals zum Entsetzen der anderen vom ÖVP-Kanzler Schüssel in eine Regierungskoalition aufgenommen, wurde jenseits dieser Linie verortet, das unappetitliche Bündnis auf diplomatischem Parkett geschnitten. Das war im Jahr 2000.

Anderthalb Jahrzehnte sind die Rechtspopulisten beängstigend herangewachsen und beanspruchen die Chefsessel – nicht nur in Österreich.