Athen. Zehntausende Flüchtlinge sitzen in Griechenland fest, seit die Balkanroute dicht ist. Athen scheint keinen Plan zu haben, was aus ihnen werden soll

    Nasir starrt auf sein Smartphone, immer wieder. „No message“, sagt er enttäuscht, keine Nachricht. Der Afghane wartet auf eine SMS von seinem Cousin Habib aus Deutschland. „Er hat es im Februar nach dort geschafft, als die Grenzen gerade noch offen waren“, erzählt der 24-Jährige. „Jetzt ist er in der Nähe von Berlin“, sagt Nasir und zeigt das Selfie, das sein Cousin ihm aufs Handy geschickt hat. Es zeigt einen lachenden jungen Mann vor dem Brandenburger Tor. Inzwischen ist die Balkanroute dicht. „Habib hat versprochen, mich hier rauszuholen, aus dieser Hölle“, sagt Nasir.

    Nach Wochen hilflosen Wartens liegen bei vielen Migranten die Nerven blank

    Die Hölle, das ist der alte Athener Flughafen Ellinikon. Seit 15 Jahren ist hier kein Flieger mehr gelandet. Eigentlich sollten die Gebäude längst abgerissen sein. Dass sie noch stehen, ist dem chronischen politischen Stillstand in Griechenland geschuldet – und erweist sich jetzt als Glücksfall für die Flüchtlinge, die hier untergekommen sind. Im dämmrigen Licht der riesigen Abflughalle reihen sich die bunten Kuppeln Hunderter kleiner Campingzelte aneinander. Über 3500 Menschen hausen in dem alten Flughafenterminal. Sie dösen in den Zelten oder lagern auf Wolldecken, die sie auf dem Betonboden ausgebreitet haben. Ein kleines Mädchen hat vor einem Zelt seine Spielsachen ausgebreitet: Stofftiere, eine Puppe, ein rotes Plastikdreirad.

    Fast 55.000 Flüchtlinge und Migranten sind in Griechenland gestrandet, seit die Balkanländer ihre Grenzen geschlossen haben. Noch hoffen viele, dass sich irgendwann für sie ein Weg nach Europa öffnet. Wie die meisten, sitzt Nasir jetzt schon seit zwei Monaten hier fest. „Das Schlimmste ist die Untätigkeit, die Ungewissheit“, sagt der junge Mann. Er will nicht, dass Ellinikon für ihn zur Endstation wird. „Es muss doch einen Weg geben, hier rauszukommen“, sagt er.

    Merwe ist 19. Auch sie kommt aus Afghanistan, wie fast alle hier in der Halle. Mit ihrer Mutter sitzt sie vor einem der Zelte, nebenan ihr Cousin mit seinen Töchtern. „Fast 10.000 Dollar haben wir fünf den Schleusern bezahlt“, erzählt die junge Frau. Über den Iran brachten die Schmuggler sie in die Türkei und dann auf einem Boot über die Ägäis zu einer griechischen Insel, deren Namen Merwe vergessen hat. Nun sitzen sie hier, in diesem Elendslager. Auch Merwe hat Verwandte in Deutschland. „Irgendwie wird es schon gehen – es muss“, sagt Merwe trotzig.

    So froh die Menschen auch anfangs waren, in Ellinikon wenigstens ein festes Dach über dem Kopf zu haben, wird die Stimmung im Lager doch von Tag zu Tag gereizter. „Aus den Duschen kommt nur kaltes Wasser, das ist ein Problem für die vielen Babys und ihre Mütter“, klagt Merwe. „Wir bekommen zwar Essen, aber es ist schlecht und nicht genug.“ Hilfsorganisationen bestätigen: Viele der fast 1000 Kinder in Ellinikon sind unterernährt. 3500 Menschen müssen sich 40 Toiletten teilen. Kürzlich schickten fünf Bürgermeister angrenzender Gemeinden einen Brandbrief an Premier Alexis Tsipras: „Die Situation ist außer Kon­trolle und stellt ein enormes Risiko für die öffentliche Gesundheit dar“, hieß es darin. Die Flüchtlinge im Lager sind sich selbst überlassen. Der Staat glänzt durch Abwesenheit, bis auf zwei Polizisten, die draußen in ihrem Streifenwagen sitzen. Nach Wochen hilflosen Wartens liegen bei vielen Migranten die Nerven blank. Immer häufiger kommt es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen.

    Auch der Hafen von Piräus, wo 2000 Flüchtlinge kampieren, und das Elendslager bei Idomeni an der mazedonischen Grenze mit seinen fast 10.000 Menschen sind Brennpunkte, an denen es fast jede Nacht Schlägereien und Messerstechereien gibt. Die Bewohner des Dorfes Idomeni beschwerten sich diese Woche in einem Brief an die Regierung über mangelnden Schutz: Täglich komme es zu Vandalismus und Diebstählen in dem Dorf. Der für die Migrationspolitik zuständige Vizeinnenminister Giannis Mouzalas verspricht zwar, man werde Unterbringungsmöglichkeiten für weitere 20.000 Menschen schaffen. Das „Lager der Schande“, wie Idomeni genannt wird, werde aufgelöst, sagt Mouzalas. Aber bisher folgten nur wenige Migranten den Appellen der Behörden, in organisierte Unterkünfte umzuziehen.

    In Idomeni beginnen sich dauerhafte Infrastrukturen zu entwickeln. Die Menschen zimmern die ersten Baracken. „Hier entsteht Griechenlands erste Favela“, fürchtet Nikitas Kanakis. Der 49-jährige Zahnarzt ist Präsident der griechischen Sektion der Hilfsorganisation Ärzte der Welt. Einen Plan der Regierung, was mit den Menschen geschehen soll, vermag Kanakis nicht zu erkennen: „Die Politiker wursteln sich durch, von einem Tag zum nächsten“, klagt Kanakis. „Sie geben sich der Illusion hin, dass sich das Flüchtlingspro­blem auf eine wundersame Weise von selbst löst.“ Er aber rechnet damit, dass die meisten Menschen „mindestens zwei, drei Jahre“ in Griechenland bleiben werden, wahrscheinlich länger.

    Auch der 20-jährige Tamim hat sich damit abgefunden, dass er wohl noch lange in Griechenland bleiben wird: „Ich glaube nicht, dass sich die Grenzen bald wieder öffnen“, sagt der junge Afghane. Er lebt seit zwei Monaten im Flüchtlingslager Schisto westlich Athens. Die Lebensbedingungen in dem ehemaligen Armeecamp sind deutlich besser als in Ellinikon oder Idomeni. „Hier leben knapp 2000 Menschen“, erläutert Major Vassilios Thanos bei einem Rundgang durch das Lager, das die Streitkräfte im Februar in nur elf Tagen für die Aufnahme der Flüchtlinge hergerichtet haben. Die Menschen leben in Zelten. Es gibt drei Mahlzeiten am Tag, sogar einen Kinderspielplatz. Doch auf den nächsten Winter sei man hier bisher nicht vorbereitet, räumt Major Thanos ein.

    Immerhin gibt es eine provisorische Schule. Ziad, selbst ein Flüchtling, betätigt sich als Lehrer. Der afghanische Universitätsprofessor, der fünf Sprachen beherrscht, nimmt mit seinen Schülern das griechische Alphabet durch: „Alpha, Beta, Gamma, Delta …“ Auch Tamim drückt die Schulbank. „Ich gebe die Hoffnung nicht auf“, sagt Tamim, „selbst wenn ich hier Jahre warten muss.“

    Wenige bringen so viel Geduld auf. Prekär ist vor allem die Lage der rund 8400 Flüchtlinge und Migranten, die auf den ostägäischen Inseln festsitzen. Die meisten von ihnen müssen damit rechnen, in die Türkei zurückgeschickt zu werden. Die Lager, in denen die Menschen auf ein ungewisses Schicksal warten, gleichen eher Hochsicherheitsgefängnissen, sind von hohen Stahlzäunen und Stacheldrahtverhauen umgeben. Trotzdem gelingt immer mal wieder einigen der Ausbruch. Wie jenen sechs Migranten, die Anfang der Woche versuchten, von Chios zurück in die Türkei zu schwimmen – offenbar, um von dort einen anderen Weg nach Europa zu suchen. Die Männer, fünf Marokkaner und ein Algerier, wurden völlig erschöpft von der Küstenwache aus dem Meer gefischt.